Der Letzte macht das Licht aus

Der Letzte macht das Licht aus

Interview mit Taffy Oyewusi

1. Von Ile-Ife nach Lagos

 

Damian Christinger: Lieber Taffy, wir sind bereits lange Nachbarn und ich weiss relativ wenig über dich. Du kochst wunderbares Stew, arbeitest als Beleuchter und Bühnenbauer bei verschiedenen Theaterproduktionen, kümmerst dich liebevoll um deine Tochter – so viel und gleichzeitig so wenig weiss ich über dich. Dieses Interview soll Abhilfe schaffen. Welcher Name steht in deinem Pass?

 

Taffy: Oluseye Adetayo Oyewusi.

 

DC: Gehörst du zu einem Volk?

 

TA: Ich gehöre zum Volk der Yoruba.

 

DC: Wo und wie bist du aufgewachsen?

 

Taffy: Ich wuchs in Ile-Ife auf, der heiligen Stätte der Yoruba-Könige, einem kleinen Dorf, wo früher alle wichtigen Plastiken, Skulpturen und Figuren, der Vorfahren, der wichtigen Könige und Götter aufbewahrt wurden. Jeder Yoruba-König musste mindestens einmal im Jahr eine Wallfahrt dorthin machen, um sich mit den Vorfahren zu verbinden. Heute ist Ile-Ife eine Kleinstadt mit einer Universität.

 

DC: Was soll ich mir in Nigeria unter einer Kleinstadt vorstellen?

 

TA: Ile-Ife hat ungefähr die Grösse Zürichs. Vielleicht fühle ich mich deshalb hier so wohl. Meine Eltern hatten beide in Amerika studiert und kamen 1960 bei der Gründung der Universität von Ile-Ife, die heute Obafemi Awolowo Universität heisst, zurück nach Nigeria. Das war kurz nach der Unabhängigkeit von Großbritannien. Viele junge, gut ausgebildete Nigerianer wollten beim Aufbau des unabhängigen Staates dabei sein. Dass mein Vater überhaupt in Amerika studieren konnte, hing mit der Stelle meines Grossvaters als Koch in einem presbyterianischen Spital zusammen. Mein Vater arbeitete als Junge für alles und freundete sich mit dem Sohn des Chefarztes an, einem Amerikaner, der dann später dafür sorgte, dass mein Vater ein Stipendium erhielt. Das Leben schlängelt sich in seltsamen Pfaden....

 

DC: Du hattest also eine behütete Kindheit?

 

TA: Sehr. Wie behütet, habe ich erst verstanden, als ich nach dem Studium nach Lagos ging. In Ile-Ife studierte ich Theater, also alles von Beleuchtung, über Regie bis Schauspiel, danach wollte ich unbedingt in einem Theater in Lagos arbeiten. Ich kam auch gleich bei einem unabhängigen Theater für eine Produktion zum Thema Genitalverstümmelung und Aids als technischer Direktor unter. Vielleicht auch, weil vielen Anderen dieses Thema zu heiss war.

In dieser ersten Produktion war ich unglaublich gefordert. Zum einen war das Budget sehr begrenzt, zum anderen verstand ich die Mentalität der Menschen in Lagos überhaupt nicht. In Ile-Ife kannten sich alle, das heisst, wenn jemand zu spät zu einer Probe kam, wurde sein Vater am nächsten Tag darauf angesprochen: «He, dein Junge kommt häufig zu spät, hab ich gehört, was ist denn mit ihm los?» Konkret bedeutet das, dass eben niemand zu spät kommt. In der Anonymität der Grosstadt ist das anders.

 

DC: Was hat dich sonst noch befremdet?

 

TA: Ich wohnte zur Untermiete in einem Haus in dem auch eine Mutter mit ihrer fast erwachsenen Tochter wohnte. Eines Abends kam ich nach Hause und vor dem Haus war ein Riesenaufruhr. Mutter und Tochter schrien sich an, die Nachbarn mischten sich ein und ergriffen Partei. Was dahintersteckte: Die Tochter hatte sich mit dem Freund der Mutter zu einem Date verabredet. Mir war das unglaublich peinlich und ich fragte meine Freunde bei der Arbeit, was ich tun soll, worauf diese meinten: «Hey Country-Pumpkin, Bush-Boy, gewöhn Dich dran, so ist das in der Stadt.»

 

2. Theater für die Stadt

 

DC: Wie ging es mit deiner Theaterkarriere weiter?

 

TA: Nach einer Anlaufzeit fühlte ich mich immer besser. Ich wohnte unweit des Theaters. Jeden Morgen ging ich als erster hin, sperrte auf und begann die Vorbereitungen für den Tag, dann kamen die Proben, abends die Aufführungen, ich ging immer als Letzter, machte sozusagen die Lichter aus, sperrte zu und schaute auf dem Nachhauseweg einem spontanen Fussballmatch in der Nachbarschaft zu, trank ein Bier und quatschte mit den Leuten. Dann ging ich schlafen, um dann am nächsten Morgen wieder zu arbeiten. Ich war sehr glücklich in dieser Zeit. Nach ungefähr einem Jahr bekam ich eine Festanstellung, und dann bekamen wir Geld von der UNICEF. Wir fingen an, mit Laienschauspielern, zum Beispiel Strassenkindern, zu arbeiten, was anspruchsvoll, aber auch sehr befriedigend war.

 

DC: War das interessant für euer Publikum?

 

TA: Wir machten während des Arbeitsprozesses jede Woche Gratis-Aufführungen. Das Haus war immer voll. Die Leute kamen, weil sie die Menschen aus ihrem Quartier sehen wollten. Nehmen wir zum Beispiel Kelvin, der keinen Job hatte und Tag ein, Tag aus im Quartier herumlungerte. Die Menschen schauten auf ihn herunter und sagten: «Dieser Kelvin ist ein Nichtsnutz.» Dann wurden sie eingeladen, sich eine Produktion anzuschauen, in der Kelvin tanzt. Und siehe da, Kelvin konnte richtig gut tanzen, war Teil von etwas Grösserem, etwas, das Emotionen auslöst. Plötzlich sagten die Leute: «Der Kelvin ist einer von uns, der kommt aus unserem Quartier!» Wir machten auch Umfragen auf der Strasse. Wir wollten wissen, was die Menschen bewegt. In einem Viertel, wo sich der Busbahnhof befand, machten sich viele darüber Sorgen, dass einige der Fahrer während der Arbeitszeit betrunken sind. Wir haben dann kurze Stücke zum Thema Alkohol und Alkoholismus entwickelt, sind zu den Busstationen hingefahren und führten sie dort inmitten des Gewusels auf. Das waren kurze Momente, wo dort alles stillstand. Niemand hatte je etwas Vergleichbares gesehen: Es war Theater auf der Strasse aus dem Nichts. Danach wurde dann intensiv diskutiert, das kannst du dir vorstellen. Nachdem das Projekt mit der UNICEF abgelaufen war, sind dann private Sponsoren eingesprungen, nigerianische Firmen, die etwas zurückgeben wollten. Das ging dann auch noch einige Jahre lang gut...

 

DC: …und dann?

 

TA: Dann kamen die Sponsoren immer mehr mit Forderungen, wir sollten dieses und jenes Thema aufnehmen, das sich dann politisch hätte instrumentalisieren lassen. Das wollten wir nicht, und so sind dann die Sponsoren nach und nach abgesprungen. Das Geld ging langsam aus. Der Direktor ging nach Amerika, um dort zu arbeiten, er hat Geld geschickt. Am Schluss war ich der einzige, der noch dort arbeitete. Alle anderen waren weg, und so mussten wir schliessen. Genau da kam dann eine Anfrage einer Theatergruppe aus der Schweiz, die ein Stück von Wole Soyinka uraufführen wollten. Wole hat aber darauf bestanden, dass das Stück zuerst durch Nigeria tourt und ich wurde als ortskundiger Bühnentechniker engagiert.

 

3. Anpacken in der Schweiz

 

DC: Schliesslich kamst du in die Schweiz. Was gab dazu den Ausschlag?

 

TA: In Ile-Ife sagte man immer, wenn du etwas übers Geld verdienen lernen willst, dann geh nach Amerika; wenn du Wissenschaftler werden willst, nach England; wenn du aber etwas über Technik lernen willst, musst du nach Deutschland. Unser bestes Equipment am Theater in Lagos kam aus Deutschland und ich dachte, die Schweiz liegt ja gleich nebenan, da kann ich mich weiterbilden, vielleicht Techniker für Kinofilme werden. Ich bekam dann ein Visum für drei Monate und meine Freunde in der Schweiz haben mir ein Praktikum vermittelt. Das war vor 13 Jahren. Ich habe schnell gemerkt, dass bei Produktionen wie dem Theaterspektakel oder bei Karls kühne Gassenschau Allrounder stark gefragt waren, also beispielsweise Leute, die nicht nur Beleuchter sind, sondern auch mal eine Stahlkonstruktion zusammenschweissen können. Ich hatte immer Jobs, in ganz verschiedenen Projekten, in tollen Teams. Ich war damit immer sehr glücklich.

 

DC: Ist das projektbezogene Arbeiten nicht eine sehr unsichere Sache?

 

TA: Das wurde mir bewusst, als ich letztes Jahr einen Unfall hatte. Mein Rücken war kaputt, ich konnte Monate kaum gehen, geschweige denn arbeiten. Wir haben eine Tochter, ich werde nicht jünger. Immer mehr wünschte ich mir eine Festanstellung, ein sicheres Einkommen, mehr Zeit mit meinem Kind und meiner Frau, geregelte Arbeitszeiten.

 

DC: Und wurdest du fündig?

 

TA: Seit drei Tagen liegt bei uns zu Hause mein unterschriebener Arbeitsvertrag als Bühnentechniker in der Roten Fabrik. Und weisst du was das Schönste ist? Die grosse Halle erinnert mich an mein Theater in Lagos. Dieselbe Atmosphäre, dasselbe Licht!

 

Taffy Oyewusi ist Beleuchter, Bühnentechniker, arbeitete an Filmsets und ist ein engagierter Vater. Er lebt in Zürich.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Taffy Oyewusi wurde von Damian Christinger am 1. Mai 2016 geführt.

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