«Wir alle sind Zürich»

«Wir alle sind Zürich»

Interview mit Kijan Espahangizi

1. Integration und die Qualität einer Debatte

 

Silvan Gisler: «Wir alle sind Zürich» startete am 7. Februar, zwei Tage vor dem Jahrestag der Masseneinwanderungsinitiative. Was will die Initiative, und wieso habt ihr dieses Datum gewählt?

Kijan Espahangizi: «Wir alle sind Zürich» entstand aus dem Kongress der Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund, der zum ersten Jahrestag der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) durchgeführt wurde. Es geht darum, dem 9. Februar eine neue Symbolik zu geben: als Tag, an dem wir angefangen haben uns zu wehren. Dieses Abstimmungs-Ja war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte.

SG: Inwiefern?


KE: Viele wollten etwas tun und nicht bloss ihrer Wut Ausdruck verleihen, sondern nachhaltig etwas verändern. Ich glaube, die Debatte über die Masseneinwanderungsinitiative war ein kulturelles und mediales Ereignis mit einer Tragweite, die weit über den Wortlaut und den Sachverhalt hinausging. Das wurde jedoch nicht anerkannt: Es wurde übersehen, dass allein schon die Art und Weise, wie über Migration diskutiert wurde – nämlich dass sie für die Schweiz nützlich sein soll und ansonsten als Gefahr wahrgenommen wird –, Auswirkungen hat. Denn, wenn so darüber gesprochen wird, dann trifft das auch viele Leute, die in der Schweiz leben, deren Leben aber durch Migrationsgeschichten geprägt sind. Viele haben die Debatten damals und auch heute für sich als entwürdigend und verletzend wahrgenommen.

SG: Und wieso gerade in Zürich? Die Stadt wird als eher weltoffen wahrgenommen, da gäbe es andere Orte, wo vermutlich mehr Handlungsbedarf besteht.

KE: Für uns war rasch klar, dass eine solche Bewegung nur Sinn macht, wenn sie lokal stark verankert ist. So entstand in der Folge des Kongresses die Idee, dass man von den Städten ausgehend mit lokalen Initiativen startet, die sich dann national unter dem Dach «Wir alle sind Schweiz» vernetzen. In Zürich gehen wir nun einfach mit gutem Beispiel voran. Zudem: Auch in einer eher linksdominierten Stadt wie Zürich mit seiner wohlklingenden Programmatik der Offenheit und Vielfalt besitzt ein Drittel der Bevölkerung keine Bürgerrechte, und auch das Problem «Racial Profiling» als eine Form des institutionellen Rassismus ist bekannt.

 

Katharina Flieger: Welches sind eure Ziele?


KE: Wir müssen in die Offensive gehen. Es braucht eine neue selbstbewusste Haltung. Wir fordern die Anerkennung von postmigrantischen Lebensrealitäten, die längst Teil der Gesellschaft sind, und haben eine kritische Haltung gegenüber der Art und Weise, wie derzeit über Integration gesprochen wird. Da wird von den einen Integration gefordert, gleichzeitig wurde die Masseneinwanderungsinitiative angenommen und die Bürgerrechtsrevision an die Wand gefahren. Dabei war die Integrationspolitik eigentlich ein Versprechen, das besagte, dass Integration ein beidseitiger Prozess sei – wie es übrigens auch im Ausländergesetz steht.

SG: Das klingt so, als ob du die Debatte um Integration als gescheitert ansiehst. Ist sie das wirklich?


KE: Die Wahrnehmung, dass auf der einen Seite die Migrantinnen und Migranten oder Ausländerinnen und Ausländer, und auf der anderen Seite die Schweizerinnen und Schweizer sind, ist an sich ein Problem. Wir leben hier in einer Gesellschaft, die nicht einmal bereit ist, die dritte Generation automatisch einzubürgern, was in anderen europäischen Ländern sogar von der Rechten längst akzeptiert wird. Wir sind keine Dauer-Migrantinnen und -migranten. Und wir wollen auch keinen Migrationshintergrund zugeschrieben bekommen. Wir sind Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes. Wir wollen Teilhabe. Das bedeutet nicht bloss, wählen zu gehen. Menschen mit Migrationshintergrund wollen ebenso viel oder wenig wählen gehen wie andere auch. Es geht vor allem um Aufenthaltssicherheit und um die grundsätzliche gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Existenz. Darumbraucht es eine neue zivilgesellschaftliche Bewegung, die das anspricht, was in der Politik wie auch in den meisten Medien keinen Raum findet. «Wir alle sind Zürich» hat zudem einen wichtigen Zusatz: «... alle, die hier sind und noch kommen werden.»

 

2. Dominanzgesellschaft und Zivilgesellschaft

SG: Die Masseneinwanderungsinitiative wurde angenommen. Die Menschen, die dafür gestimmt haben sind Realität. Auch sie sind eine zivilgesellschaftliche Bewegung, auch sie haben aufgeschrien. Halt einfach in eine andere politische Richtung als ihr. Liegen sie mit ihrer Meinung darum falsch?

KE: Da muss man unterscheiden: Das war kein Schrei der Zivilgesellschaft, sondern ein Kreischen der Dominanzgesellschaft.


KF: Woran machst du diese Unterscheidung fest?


KE: Zivilgesellschaft bedeutet Engagement von Bürgerinnen und Bürgern ausserhalb staatlicher, politischer und medialer Institutionen. Die Zivilgesellschaft ist aber auch ein politisches Konzept, ein Motor der Demokratisierung. Bestrebungen, die in Richtung einer Ent-Demokratisierung unserer Gesellschaft gehen, gehören für mich nicht zur Zivilgesellschaft. Wen meinen wir denn, wenn wir vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger sprechen? Die Dominanzgesellschaft würde einschränkend sagen: die «richtigen» Schweizer mit Schweizer Pass. Diese Dominanzgesellschaft hat bei der MEI gesprochen.

SG: Einige würden hier entgegnen, das Volk habe gesprochen.

KE: Es gibt in der Schweiz die absurde Vorstellung der Unfehlbarkeit des Stimmvolkes. Dabei ist eben dieses eine überrepräsentierte Minorität unserer Gesellschaft. Und gerade darum müssen wir uns engagieren. Wir müssen ansprechen, was in dieser Dominanzkultur nicht thematisiert wird. Das sind lebensweltliche Erfahrungen, die geprägt sind von transnationalen Familiengeschichten, von Migrations- und Fluchtgeschichten, von Mehrfachzugehörigkeiten, von Mehrfachdiskriminierung, von Rassismus-Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen in einer postmigrantischen Gesellschaft in der öffentlichen Debatte angemessen Raum bekommen.

SG: Du hast schon in mehreren Artikeln diesen Begriff der «Postmigration» verwendet. Was bedeutet er für dich?

KE:Mit dem Ausdruck «post» soll darauf hingewiesen werden, dass Migration nicht nur eine Zukunftsfrage ist, wie immer getan wird, sondern dass Migration dieses Land allein nach dem Zweiten Weltkrieg bereits massiv verändert hat. Migration ist längst geschehen! Das ist kein abstrakter Diskurs – für viele ist Migrationsgeschichte die Geschichte ihrer Eltern, Grosseltern, Lebenspartner und Freunde. Wenn man über Migration diskutiert, als ob es nur um die Zukunft ginge, verleugnet man diese Vergangenheit. Auch das ist Ausgrenzung. Migration wird auch weiterhin eine Grundkonstante für die Schweiz sein. Sie findet statt, ob das Stimmvolk dies will oder nicht. Diese Veränderungen müsste man zuerst mal nüchtern analysieren und sich fragen, was das für uns bedeutet. Da geht es unter anderem um längst überfällige Anpassungen im Staatsbürgerrecht.

SG: Der Glaube an eine Lenkung oder Steuerung der Migration existiert. Du kommst jetzt und sagst, das sei nicht möglich, zahlreiche weitere Menschen würden so oder so kommen. Wie willst du das den Leuten verständlich machen?

KE: Es ist sowohl die Aufgabe und zugleich die Illusion eines Staates, Migration lenken zu können. Natürlich haben Lenkungspolitiken durchaus Effekte, aber häufig auch solche, die gar nicht geplant waren. Ein Beispiel: In den 1950/60er-Jahren wurden zwar Hunderttausende Ausländer als Arbeitskräfte ins Land geholt – aber man dachte nicht, dass viele bleiben und die Gesellschaftsstruktur verändern würden. Doch offensichtlich hat man seit dem Zweiten Weltkrieg nichts gelernt und zelebriert gegenüber dem Stimmvolk die Illusion der starken Hand und einer totalen Lenkung der Migration. Daraus ergibt sich eine Eskalationsspirale von medialen Paniken und Dauerwahlkampf – wirkliche Probleme bleiben dabei ungelöst.

 

3. Rassismus und Privilegien

SG: Der Wunsch nach einer Lenkung der Migration kann auch als Sorge vor eigenen Verlusten gedeutet werden.

KE: Wenn wir von Dominanzgesellschaft sprechen, bedeutet dies, dass ein Teil der Gesellschaft aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den «richtigen» Schweizern von Privilegien profitiert. Gewollt oder nicht gewollt. Wahrscheinlich würden viele sagen, sie wollen diese Privilegien nicht – sie nutzen sie dennoch. Wenn es darum geht, Chancen fair zu verteilen, müssen derartige Privilegien abgebaut werden. Das ist bei der Migration so und das war bei der Frauenbewegung ebenso. Wenn man möchte, dass Frauen gleichberechtigt sind, dann werden Männer, die vorher Vorteile hatten, einer härteren Konkurrenzsituation ausgesetzt. Ich glaube zudem, dass diese Privilegien die gemeinsame Basis der Dominanzgesellschaft ausmachen, jenseits parteipolitischer Lager – das gilt also für die politische Linke ebenso wie für die Rechte. Diese Privilegien, etwa beim Bürgerrecht, werden bezeichnenderweise von beiden Lagern nicht grundlegend infrage gestellt.

SG: Nach dem Ja der MEI-Abstimmung wurde unter anderem auch gesagt, dass viele Journalisten und Journalistinnen für das Anliegen Verständnis zeigten, da sie ebenfalls zu einer Berufsgattung gehören, die unter Druck gerät.

KE:Wenn man die Dominanzgesellschaft verstehen will, muss man Prozesse mitdenken, die gar nichts mit Rassismus zu tun haben. Die Ökonomisierung und Boulevardisierung im Medienbereich führt zu einem Konkurrenzdruck, der kritische Inhalte allgemein nicht gerade fördert. Prekäre Arbeitsverhältnisse verstärken die Schere im Kopf. Wer traut sich, Grundfesten der Dominanzkultur in Frage zu stellen, wenn die eigene Stelle gefährdet ist?

KF: Du bist Akademiker, sprichst von Diskursen und Konzepten. Wie willst du deine Anliegen einer breiten Bevölkerung vermitteln?

KE: Die Frage ist doch, wem ich was vermitteln soll? Ausgrenzungserfahrungen werden in der Schweiz mit und ohne Studienabschluss gemacht. In dem Sinne klingt das, was ich in meinen Texten und Vorträgen sage, zwar in der Begrifflichkeit akademisch, aber dahinter steht eine gelebte Rassismuserfahrung, die viele teilen, auch wenn sie nicht jedes Wort verstehen. Das Dilemma der (Nicht-)Zugehörigkeit kennen sehr viele in der Schweiz nur allzu gut. Das verbindet bis zu einem gewissen Masse auch über soziale Grenzen und Bildungsschichten hinweg.

 

SG: Was für ein Dilemma?


KE: Etwa, dass die Tatsache der Mehrfachzugehörigkeiten immer noch nicht allgemein akzeptiert ist. Wenn Fussballspieler in der Nationalmannschaft den Doppeladler-Gruss machen, wird sofort in Frage feststellt, ob sie richtige Schweizer sind. Das ist absurd. Wenn jemand sagt, er sei erst mal Nidwalder und dann Schweizer, passiert das nicht.

 

KF: Du hast vorhin von Rassismus gesprochen. Wo verortest du diesen in der Schweiz?

KE: Studien belegen, dass die allermeisten Schweizer und Schweizerinnen keine rassistischen Haltungen haben. Wenn öffentlich von Rassismus gesprochen wird, meint man aber nur die harten Fälle rassistischer Diskriminierung, in Wort und Tat. Wir wissen jedoch aus der Forschung, dass der Alltagsrassismus zum überwiegenden Teil auf leisen, unverdächtigen Sohlen daherkommt. Etwa, wenn eine schwarze Schweizerin zum 100’000ten Mal gefragt wird, woher sie kommt. Die einzelne Frage ist nicht rassistisch, aber in der Summe sind die Fragen Rassismus wirksam. Hat man die Menschen einmal auf Fremdheit festgeschrieben, so wirkt dann auch deren Benachteiligung und Diskriminierung gleich viel legitimer. Wir sprechen hier von strukturellem Rassismus. Der funktioniert heute eben auch, wenn die meisten keine rassistische Haltung haben. Viele übersehen, dass Rassismus sich historisch wandelt, man denke nur an den Aufstieg des antimuslimischen Rassismus in den letzten Jahren. Heute spricht man zwar nicht mehr von Rassen, aber umso mehr von Kulturen und Ethnien. Die Worte ändern sich, die Ausschlussstrukturen nicht unbedingt. Symptomatisch ist, dass es einen massiven Unwillen gibt, Studien dazu zu Kenntnis zu nehmen. Nicht, weil diese zu akademisch wären, sondern weil man nicht darüber sprechen will.

KF: Welche Verantwortung tragen dabei aus deiner Sicht die Medien? Was erwartest du von Redaktionen?

KE: So langsam fängt man auch mal in Schweizer Redaktionen an, von Diversity-Politik zu sprechen. Doch das bedeutet nicht, einfach bloss jemanden mit «fremdem» Namen oder «fremder» Hautfarbe vor die Kamera zu stellen. Es geht eben nicht nur um andere Namen und andere Gesichter, sondern auch um andere Inhalte, andere Strukturen, andere Erfahrungen. Dafür bräuchte es einen institutionellen Lern- und Transformationsprozess. Eine weitere Verantwortung der Medien wäre – wenn man denn schon die «Ängste der Bevölkerung» ernst nehmen will –, dabei wirklich auch die ganze Bevölkerung im Auge zu behalten und nicht nur eine autochthone Minderheit. Viele Mitmenschen ohne roten Pass haben in Anbetracht von Ausschaffungs- und Durchsetzungsinitiative nämlich zunehmend Angst, was die Zukunft noch für sie bereithält. Was ist damit?

 

Kijan Espahangizi ist promovierter Historiker und arbeitet als Geschäftsführer am Zentrum «Geschichte des Wissens» der ETH und Universität Zürich. Er ist Mitinitiator des postmigrantischen Stadtforums «Wir alle sind Zürich». (wirallesindzuerich.ch)

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Kijan Espahangizi wurde von Katharina Flieger und Silvan Gisler am 18. Januar in Zürich geführt.

 

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