Blüttlä im Tösstal

Auf dem Sitzberg liegt das grösste Naturistengelände der Schweiz. Dreissig Hektaren für nackte Körper. Ein Selbstversuch mit überraschenden «Erkenntnissen».

Wir haben Turbenthal soeben hinter uns gelassen und fahren im Auto den steilen Weg zum Sitzberg hoch, als uns erneut Zweifel aufkommen. «Was werden die von uns denken? Was, wenn uns jemand kennt?», fragt meine Begleiterin. Für einen Rückzieher ist es da schon zu spät, der Abgabetermin für den Text ist gesetzt. Wir fahren zum Naturistengelände Sitzberg! Dorthin, wo nackte Körper in der Sonne fläzen, wo Naturisten in Wohnwagen und Zelten ihre Ferien verbringen. Dorthin, wo so allerlei passiert, denkt man zumindest. Aber was genau eigentlich?

Die Reaktionen auf das Thema im persönlichen Umfeld: Scham, Ekel, Empörung, Erheiterung, Prüderie und Lust. Manche denken an Esoterik und Orgien im Wald. Bei den meisten aber: Neugier.

Durch Turbenthal hindurch, dann vor dem Bahnübergang abzweigen und links halten, eine steile Strasse hinauf:  Ab da kann man den Sitzberg nicht mehr verfehlen. Die Fahrt ab Tal dauert gut zehn Minuten. Lange genug, um in eine andere Welt zu gelangen. Unser Ziel ist ein umgenutzter Bauernhof, der als «Hauptquartier» des Vereins Natürlich Sitzberg dient. Wie wir uns scheu und noch bekleidet an die Rezeption anschleichen, kommt uns eine aufgestellte Frau Mitte Vierzig mit blonden Haaren und einem freundlichen Lächeln entgegen. Das ist Nathalie, Vizepräsidentin des Vereins und unser Guide an diesem Samstag. Und sie ist nackt, beinahe: Bloss um die Hüften hat sie ein leichtes, buntes Tuch geschlungen. Die Brüste aber trägt sie frei, als wären diese, nun ja, eben nicht mehr als gewöhnliche Körperteile. «Willkommen!»

Auf einer Karte erklärt uns Nathalie das Gelände. Ich hefte meinen Blick fest auf das laminierte Stück Papier in ihren Händen, darauf bedacht, ihr nicht auf den Busen zu starren. Gerade im rechten Moment kommt Ablenkung in Form eines Joggers, ein Mann mittleren Alters und mit nichts als Laufschuhen an. Er winkt. Nathalie winkt zurück. «Hello!», ruft sie dem Mann zu, der aus Russland stammt und in der Schweiz Ferien macht.

Gut 30 Hektaren, also etwa 42 Fussballfelder, umfasst das grösste Naturistengelände der Schweiz. Der Karte entnehmen wir, dass wir vom Bauernhof aus in der einen Richtung zum kleinen Schwimmbecken und den Liegewiesen mit Volleyballfeld und Bocciabahn gelangen, und in der anderen Richtung zum Campingbereich. Das hügelige Gelände ist eingesäumt von Wald. Kaum ein Spaziergänger verirrt sich auf den Sitzberg, der zwischen Turbenthal und Dussnang in die Höhe ragt.

Wir vereinbaren mit Nathalie, uns in anderthalb Stunden zu einem ausführlichen Gespräch wieder zu treffen. In der Zwischenzeit wollen wir das Gebiet auf eigene Faust erkunden. Nackt. Wir entkleiden uns beim Auto, zögernd, und beim Blick nach unten kommt da schon die Frage auf: Hat die Welt darauf gewartet? Will sie das hier wirklich sehen? Doch das ist eben nicht die Welt, die wir kennen. Mutig schreiten wir einzig mit Turnschuhen an den Füssen und geschultertem Rucksack die zirka hundert Meter zum Bad, und wir merken schnell: Unter Nackten ist das Nacktsein nur noch ein bisschen ungewöhnlich.

Der Wetterbericht sagt einen wechselhaften Samstag vorher, weshalb das schöne, grüne Gelände heute nur von Wenigen besucht wird. Ein Mann spielt Horn und ein anderer trainiert seinen athletischen Körper mit Bewegungen, die wie Yoga aussehen. Wir springen ins kühle Nass, 21 Grad Wassertemperatur, nur mittels Sonnenwärme geheizt. Nackt im Wasser zu sein ist wunderbar. Das wird keiner bestreiten, der das Gefühl kennt.

Zum Zmittag packen wir unsere Käsesandwiches und den Salat aus. Fleischverzehr ist, wie auch der Konsum von Tabak und Alkohol, untersagt auf dem Gelände, weil es dem Grundgedanke des Naturismus widerspricht: eine gesunde Lebensführung im Einklang mit der Natur. Ich widme mich meiner Lektüre, die ich zum Thema herausgesucht habe. Ich lese da: Sport im Adamskostüm war für die alten Griechen und die frühen Römer eine Selbstverständlichkeit. Der Naturismus aber, von dem wir reden, ist viel jünger. Zwei Wegpunkte waren in der Entwicklung entscheidend: erstens die Gründung der Organisation der Schweizer Naturisten 1927, welche später das Naturistengelände «Die neue Zeit» in Thielle am Neuenburgersee gründete. Der gleichnamigen Stiftung gehört auch das Gelände am Sitzberg. Und zweitens die lebensreformerische Künstlerkolonie auf dem Monte Verità bei Ascona ab 1900, die den Grundstein für den Naturismus setzte. Die Idee der Kolonie geht zurück auf den deutsch-österreichischen Künstler Gusto Gräser, ein ehemaliger Jünger des Malers Wilhelm Diefenbach, der seinerseits in München nackt verkehrte, so oft es ging, und es deswegen nicht selten mit der Justiz zu tun bekam (bis er 1913 starb, an einer Lungenentzündung). Gusto Gräser erwarb 1900 unter Mithilfe eines belgischen Fabrikantensohns den Monte Monescia oberhalb Ascona und benannte ihn kurzerhand in Monte Verità um – den Berg der Wahrheit. Die Kolonie, in der zunächst nur Selbstversorger und Vegetarier lebten, zog bald eine grosse Bandbreite von Interessenten an. Künstler, Theosophen, Freidenker, Anarchisten und auch Faulenzer. Hans Arp, Paul Klee, Hermann Hesse, C.G. Jung, Lenin und Bakunin sind nur die bekanntesten Namen auf der Liste der Besucher. Ihnen gemein: ihre Abneigung gegen die herrschende Gesellschaftsordnung und die Suche nach einer neuen Lebensweise. Auf dem Monte Verità wollten sie sich der Industrialisierung und Urbanisierung im Fin de Siècle entziehen und zurück zum natürlichen Sein finden, zum unschuldigen Kinde, zum edlen Wilden. Naturismus, so der Gedanke, sei gesund und heilend, gar erlösend. Kleidung hindere den Körper bloss an der Selbstreinigung mittels austretendem Schweiss und Gasen. Nach kaum mehr als zehn Jahren zerfiel die Gemeinschaft langsam wegen unterschiedlicher Wertvorstellungen.

Gerade als das Wetter umschlägt und leichte Regentropfen auf meine Seiten fallen, kommt Nathalie und springt in den Pool. Mit ihr ist Lukas gekommen, der mit seiner Frau Sonja und den zwei Kindern im einzigen Mietzimmer im Bauernhof das Wochenende verbringt. «So habt ihr euch das wohl nicht vorgestellt», sagt Nathalie mit Blick auf die dunklen Wolken, und schlägt vor, saunieren zu gehen. Die einfache Sauna ist rasch eingeheizt, und wir schwitzen vor uns hin. Nackt in der Sauna, so ungewöhnlich ist das ja nicht!

Nathalie erzählt, wie sie schon als Kind auf den Sitzberg kam. «Es gibt Bilder von damals, wie die Pächter im Frühling das Gelände instand brachten, mit lauter nackten Helfern.» 1969 hat die Stiftung Die neue Zeit das Land gekauft und seither als Naturistengelände verpachtet. Erst letztes Jahr hat sich der Verein Natürlich Sitzberg gebildet, nachdem die letzten Pächter aufhörten, weil die Einnahmen nicht stimmten. Der Sitzberg-Gelände auf 790 Metern Höhe ist zwar grösser als jenes in Thielle, doch Letzteres zieht mit seinem mediterranen Klima viel mehr Menschen an. Im Sitzberg-Verein, der gut 60 Mitgliederinnen und Mitglieder zählt, hofft man deshalb, bald mehr Besucher an- respektive auszuziehen.

 Warum willst du nackt sein, Nathalie? «Also, zuerst einmal hasse ich das Gefühl von Badehosen, die am Füdli kleben, wenn du aus dem Wasser kommst, und die noch lange nass bleiben, obwohl dein Körper längst trocken ist.» Es sei ja nicht so, dass sie zuhause ständig nackt durch die Wohnung tanze. Aber beim Campieren sei «blüttlä» eben viel einfacher und unkompliziert.

Anders als Nathalie hat Lukas den Naturismus mit seiner Familie erst vor drei Jahren entdeckt: «Wir sassen im Zug nach Marin am Neuenburgersee, wo wir Zeltferien machen wollten. Im Abteil lernten wir eine Frau kennen, die auf dem Weg nach Thielle war.» Die Frau erzählte ihnen vom Naturistengelände und Lukas und Sonja waren interessiert. Spontan stiegen sie und die Kinder eine Station früher aus und gingen mit nach Thielle. Sie haben es nicht bereut: «Ich hatte noch nie so erholsame Sommerferien», sagt Lukas. Es habe schon Mut gebraucht, und dass er diesen aufbrachte, darauf sei er heute noch stolz. Die Kinder hätten sich nach kurzer Zeit daran gewöhnt.

Auf dem Sitzberg kann man so richtig die Seele (und alles andere) baumeln lassen. Kein Verkehrslärm, kein Handyläuten. Wir schlendern auf Wiesenpfaden und Waldwegen. Das Nacktsein gehört dazu, soll aber nicht die Hauptsache sein. Im Unterschied zum FKK, der sich nur über das Hüllenlose definiert und als Unterbegriff verstanden werden kann, ist Naturismus eine Lebenseinstellung, die auch die Ernährung einbezieht. «Für einige Tage kein Fleisch, Alkohol und Tabak zu konsumieren, das sehe ich nicht als Verzicht an, sondern als eine Einladung», sagt Lukas. Längst nicht alle Naturisten sind Vegis, Nichtraucher und Abstinenzler. Auf dem Sitzberg folgen sie aber den Regeln, die auch im Stiftungszweck festgeschrieben sind. Wobei man den Sitzbergern keinen Dogmatismus vorwerfen kann; es gibt eine Feuerstelle wenige Schritte ausserhalb des Areals, wohin es einige Sitzberger zum Rauchen und Würste bräteln verschlägt.

Mittlerweile scheint die Sonne wieder, wir verlassen die Sauna und springen über die grüne Wiese zurück zum Pool. Hippiekinder, würden die einen meinen. Wie die Finnen, sagen die anderen. Nach dem erfrischenden Bad setzen sich Andi und Paul zu uns, anfangs 40 und anfangs 50, beide sind Vorstandsmitglieder. Paul hat es seinerzeit aus purer Neugier auf den Sitzberg verschlagen. Andi dagegen wurde als Kind vom Arzt frische Luft und viel Sonne angeordnet, weshalb es fortan auf dem heimischen, abgelegenen Bauernhof normal war, nackt zu sein. Beide haben einen festen Campingwagen auf dem Gelände, wie Nathalie, die sogar die ganzen Sommerferien über hier bleibt. Im Campingwagen oder im Zelt geschieht es dann auch, wenn überhaupt: Sex. 

Da ist sie, die Sex-Frage, die jeder stellt, wenn es ums Blüttlä geht. Doch auf dem offenen Gelände wird der Erotik keinen Platz eingeräumt. Spanner und allzu Zeigefreudige werden weggewiesen, wobei solche Fälle rar sind. Früher, in den Siebzigern, gab es noch mehr Spanner in den Gebüschen und Piloten in Kleinflugzeugen, die auffällig häufig über das Gelände kreisten. Bestrebt, hier und da einen Blick auf einen nassen Busen oder ein Füdli auf der Wiese zu erhaschen. Manche werden beim Anblick Nicht-Angezogener halt ungezogen. 

Nicht aber die Naturisten: Sie wollen Sex und Naturismus voneinander trennen. «Viele Männer haben Angst, dass sie bei uns immer mit einem Ständer herumlaufen», sagt Nathalie. «Dabei ist das völlig unbegründet. Es gibt nichts Unerotischeres als einen Haufen nackter Menschen.» Lukas: «Ein Bikini, der viel zeigt, aber eben nicht alles, ist doch viel erotischer. Man sagt ja auch: anzüglich.» Nathalie: «Und wir sind ja keine Models. Wir haben Dicke und Dünne, Behaarte und Rasierte, junge und alte Menschen.»

 Von aussen betrachtet erweckt das Ganze einen etwas lustfeindlichen, verkrampften Eindruck. Es scheint, als würden die Naturisten, gerade weil sie mit vielen Vorurteilen konfrontiert werden, sich umso heftiger von der natürlichen Erotik distanzieren. Nathalie widerspricht: «Die Trennung vom Sexuellen machen wir genau gleich wie man sie auf der Strasse auch macht. Dort tauscht man ja auch keine sexuellen Handlungen aus. In dieser Hinsicht sind wir weder prüder, noch offener, sondern genau gleich.» Eine Rückenmassage müsse noch drinliegen, findet sie, aber damit hat es sich. Und das bedeutet auch: Schauen darf man, «so wie man einem Menschen in der Öffentlichkeit auch anschaut». Gucken ja, glotzen nein. Einmal hat Nathalie einen Gast erlebt, der auch in Swingerclubs verkehrt. «Da spürt man den Unterschied sofort, da stimmt etwas nicht in seinem Blick.» Auch Lukas’ Frau Sonja erzählt, wie sie an FKK-Stränden im Ausland schon von Männern abgecheckt worden ist. «Na, wie wärs mit uns beiden?», bekam sie von Wildfremden zu hören. Am Sitzberg sei das ganz anders, viel lockerer.

 Wer nackt ist, ist verletzlich. «Auch eine Frau muss sich bei uns frei und wohlfühlen können», sagt Nathalie. «Die Spannweite, was drin liegt und was nicht, setzen wir darum bewusst eng.» Nathalie glaubt auch: Weil man nackt nichts kaschieren kann, wird man automatisch ehrlicher. Das Nacktsein verändert das eigene Verhalten. Und darum geht es den Sitzberglern wohl letztlich: nicht um das Sich-zeigen, nicht um das Gaffen, sondern um das natürlichere Sein.

Als wir uns verabschieden, denke ich: Der Sitzberg ist ein guter Ort, um einen schönen, erholsamen Samstag zu verbringen. Nacktbaden macht Spass, das «Blüttlä» fühlt sich bald natürlich an und das Gelände ist wunderschön. Und doch bin ich froh, als wir es verlassen – um endlich eins zu rauchen.

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