Alles andere als ein Schoggijob

Alles andere als ein Schoggijob

Marina Banholzer ist ausgebildete Sozialpädagogin und arbeitet im Schlupfhuus in Zürich. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, bekommt sie zwischen Rückmeldungen wie «Schoggijob!» und «Niemals könnt ich das!» so ziemlich alles zu hören. Im Porträt erzählt sie von ihrer Arbeit und von ihrem Werdegang.

Freitagnachmittag, kurz nach 13 Uhr. Marina Banholzer sitzt an einem kleinen runden Tisch im Café. In knapp zwei Stunden beginnt ihre Schicht im Schlupfhuus in Zürich. Das heisst: Start um 15 Uhr, Feierabend am nächsten Tag um neun Uhr morgens. Dazwischen liegen achtzehn Stunden Arbeit. Marina freut sich auf die Arbeit – auch wenn sie nie weiss, was passieren wird. Aber, dass es immer etwas zu tun gibt, das ist so gut wie garantiert. Im Schlupfhuus finden Jugendliche niederschwellig für bis zu drei Monate Unterschlupf. Die Gründe für die Aufnahme in die stationäre Betreuung können sehr unterschiedlich sein: Instabile familiäre Verhältnisse, akute Belastungssituationen wie psychische oder physische Gewalt oder andere traumatisierende Erfahrungen sind nur einige der Lebensrealitäten, die die Jugendlichen ins Schlupfhuus tragen, wo sie vorübergehend einen Wohnplatz erhalten. Trotz allem wirkt Marina beim Gespräch vor der Arbeit ruhig und entspannt. Mit der Unvorhersehbarkeit in ihrem Job hat die ausgebildete Sozialpädagogin im Verlauf der letzten vierzehn Jahre gelernt zu leben. Und auch sonst hat sie vieles dazugelernt. Zum Beispiel, sich Fragen zu stellen. Fragen wie «Wo sind meine Grenzen?» – und damit auch:  «Wie kommuniziere ich diese dem Team gegenüber und den Jugendlichen?»

Es sind Fragen, die nicht einmal und für immer beantwortet werden können, sondern im Arbeitsalltag immer wieder auftauchen und mit jedem Auftauchen neu verhandelt und austariert werden müssen. «Der Job mit den Jugendlichen kann unglaublich bereichernd sein. Ich lerne jeden Tag dazu, vieles auch durch sie», erzählt sie. Im Schlupfhuus kommen unterschiedliche Menschen zusammen, deren kulturelle Hintergründe mitunter ebenfalls grosse Differenzen aufweisen können. «Davon kann ich mega profitieren. Und ich finde es sehr beeindruckend, was die Jugendlichen in ihrem Alter schon erreicht haben», sagt die Sozialpädagogin. Für jeweils zwei Jugendliche übernimmt sie die die Rolle als eine von zwei Hauptbezugspersonen: «Im Team teilen wir uns die Bezugsarbeit auf. Eine Person ist für die Aufgleisung des Hilfesystems zuständig und sucht mit den Jugendlichen eine passende Anschlusslösung nach dem Schlupfhuus. Die andere Person bietet Unterstützung bei Alltagsthemen: Wie läuft es in der Schule? Mit welchen Belastungen bewegt sich der*die Jugendliche sonst noch durchs Leben?»

Alltag bedeutete aber auch, mit den Teenies Aktivitäten zu unternehmen, um auch freudvolle Momente mit ihnen zu erleben. Dazu gehöre beispielweise Billardspielen, Baden im See, Grillieren, Kochen oder Basketballspielen. Wenn Marina von diesem Teil ihrer Arbeit erzählt, bekommt sie öfters denselben Kommentar zu hören: «Ziemlichen Schoggijob hast du da.» Zustimmen will sie diesem Satz nicht: Den Job auf Fussballspielen und auf das Sonnen in der Badi zu reduzieren, würde der Arbeit keinesfalls gerecht werden. Denn in einer Institution wie dem Schlupfhuus versammeln sich junge Menschen, deren Lebensgeschichten keineswegs einfach sind. Und dass diese Geschichten im Rahmen von Marinas Arbeitsalltag zumindest zu einem gewissen Teil zu den ihren werden (müssen), sei – wenn auch bereichernd – eine zehrende Angelegenheit. Gleichzeitig sei es schwierig, die Dimensionen dieser emotionalen Intensität Menschen zu erklären, die noch nie oder nur am Rande in einem (sozial-)pädagogischen Betreuungsberuf gearbeitet haben. «Es sind viele heftige, unterschiedliche Belastungen von Jugendlichen da – diese lassen einen emotional nicht kalt.» Psychische oder physische Gewalt, Stress und Suizidgedanken sind nur einige dieser Belastungen. «Um wieder Stabilität zu erhalten, benötigen die Jugendlichen Schutz und Handlungsmöglichkeiten, die wir ihnen aufzeigen», sagt Marina. Da die Jugendlichen während normalerweise maximal drei Monaten im Schlupfhuus sind, muss sich Marina immer wieder auf neue Personen und deren Geschichten einlassen. Vor ihrer Schicht bekommt sie bei einem Übergabegespräch die wichtigsten Informationen, die sie innert weniger Minuten aufnehmen und verarbeiten muss. «Um mit dem schnelllebigen und herausfordernden Alltag im Schlupfhuus klarzukommen, braucht man ein stabiles Privatleben, welches Erholung und Ausgleich schafft», sagt sie.

Das bringt Marina mit – auch wenn sie in ihrer Freizeit stark engagiert ist. Bereits während ihrer Lehre als Buchbinderin hat sie in einem Jungverband mitgeholfen, im Anschluss daran war sie im OK des Chräen-Openair in Neftenbach tätig, und seit gut acht Jahren arbeitet sie als Helferin bei den Musikfestwochen. Dieses Jahr verantwortet sie als Teil des OK-Teams den Helfer*innen-Plausch. «Ich bin bei solchen Veranstaltungen gern ehrenamtlich mit dabei und erhalte einen Einblick in die Eventbranche», sagt die 34-Jährige. Nebst der Sache an sich gehe es ihr auch immer darum, andere Menschen kennenzulernen. So hat sie ihr frühes Engagement im Jugendverband auch dazu veranlasst, nach der Lehre in den sozialen Bereich zu wechseln. Damals habe sie bemerkt, dass sie gut mit Menschen umgehen kann und ihr die Beziehungsarbeit liegt. Nach einem Praktikum bei einer Sonderschule machte sie ein Sozialpädagogik-Studium an der Höheren Fachschule. Während der Ausbildung arbeitete Marina in einer Stiftung, bei der sie eine Wohngruppe von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung betreute. Nach vier Jahren wechselte sie erneut Arbeitsort und Institution und leitete in Zürich ein Atelier für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Der Job gab ihr die Möglichkeit, sehr selbstständig und kreativ zu arbeiten. Nach weiteren fünf Jahren führte sie die Suche nach einer neuen Herausforderung schliesslich in das Schlupfhuus. «Warum nicht?», dachte sie sich, als sie die offene Stelle sah. «Mit Jugendlichen im WG-Kontext hatte ich bis jetzt noch nicht allzu viel zu tun.» Sie bewarb sich kurzerhand – und seither fordert sie jeder Arbeitstag von neuem heraus.

Mit der Zeit habe sie aber auch gelernt, dass es in Ordnung ist, wenn man nicht immer alles kann. Denn es gibt durchaus Momente, in denen sie an der Arbeit zweifelt. «Es ist sehr wichtig, für einen selbst immer wieder abzugleichen und sich zu fragen: Ist die Belastung noch tragbar? Gleicht sie sich mit den schönen Momenten aus?» Zeigen die Jugendlichen nach einer Anfangsphase dann zum Beispiel die Bereitschaft, mit den Sozialpädagog*innen zusammenzuarbeiten, werde einiges leichter und angenehmer. Auch der Austausch in den wöchentlichen Teamsitzungen oder Super- und Intervisionen sind unterstützend bei der Reflexion. Auch wenn die Arbeit intensiv ist – für Marina ist derzeit klar: Eine andere Arbeit kommt nicht infrage.

 

Hanna Widmer verbringt ihr Leben zwischen Musik, Schulzimmer und Schreiben.

Mareycke Frehner ist Fotografin aus Winterthur.

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