Eine Frau, die die Freiheit liebt

Eine Frau, die die Freiheit liebt

Anne Dauberschmidt ist Charakter-Darstellerin und Buchhalterin. In der Compagnie Cie. Gangwerk kümmert sie sich um die Organisation, inszeniert sozialkritische Stücke, und steht selbst auf der Bühne. In eine Schublade stecken lassen will sich Anne weder im noch abseits des Rampenlichts.

Samstagabend, 24. April, im Theater am Gleis: Das Bühnenbild ist schlicht, drei Plastikplanen hängen als separate Bahnen aufgehängt, auf der Bühne stehen ein weisser Stuhl, ein Aquarium und ein aufgehängter Blumentopf. Dann wird es dunkel und still. Zu hören ist nur das Räuspern der Zuschauer*innen, die es sich auf ihren Stühlen bequem gemacht haben, bevor das Stück beginnt.

 

Im Verlauf der Performance von Cie. Gangwerk wird es laut und wieder ganz leise. Die Zuschauer*innen geraten in eine Art Trance, wenn die Töne angenehm sind. Dann gibt es Momente, in denen sie wohl am liebsten aus dem Theatersaal laufen würden: Während nervige Piep- und Pfeiftöne erklingen, sitzen sie unruhig auf ihren Stühlen und blicken um sich.

 

Im Stück «grundrauschen», das eine Mischung aus Theater, Klang, Poesie und Tanz ist, machen die zwei Darstellerinnen auf das Spannungsfeld zwischen Lärm und Stille aufmerksam. «Wenn es uns zu still wird, suchen wir die Geräusche. Aber wenn es uns zu laut wird, suchen wir nach Stille», sagt Anne Dauberschmidt, Mitbegründerin der Cie. Gangwerk. Es gehe darum, die Balance zu finden. Die Stücke passt die Compagnie für Theater- und Tanz-Performances jeweils an den Auftrittsort an. So wird sich der Auftritt im Theater am Gleis stark von ihrer voraussichtlich nächsten Darstellung unterscheiden. Im Juli soll das Stück im Morgenland, der Werkstatt und Wohnung des Winterthurer Künstlers Erwin Schatzmann, zu sehen sein.

 

Sechs Produktionen haben die drei Frauen von der Cie. Gangwerk in den letzten zehn Jahren auf die Winterthurer Bühnen gebracht. «Die Projektgruppen sind je nach Anteil an Tanz oder Theater anders zusammengesetzt», sagt Anne. Dass die Compagnie stark in Winterthur verwurzelt sei, komme von den vielen engagierten Kulturschaffenden: «Inzwischen haben wir hier ein super Netzwerk von Leuten, mit denen wir gerne zusammenarbeiten.»

 

Auch Anne steht im neusten Stück selbst auf der Bühne. Ihren Beruf beschreibt sie als «Charakter-Darstellerin»: «Dieses Wort habe ich für mich kreiert, weil ich mich von den Vorstellungen, die man von einer Schauspielerin hat, frei machen wollte.» Um welche Vorstellung es dabei geht, scheint ihr nicht so wichtig zu sein; dass sie in keine Schublade gesteckt wird, dafür umso mehr. Für Anne ist besonders das Darstellen ohne Sprache wichtig: «Ich kann sehr gut kommunizieren, wenn ich wortlos auf der Bühne stehe.»

 

Es sind sozialkritische Themen, die die freischaffende Künstlerin ins Rampenlicht rücken will. «Unsere Stücke sollen eine Reflexion unserer Gesellschaft sein», sagt Anne. Sie suche deshalb Infos aus allen Blickwinkeln zusammen. Für «grundrauschen» sei es ein 27-seitiges Sammelsurium aus Textausschnitten, Buchvermerken und Gesprächen gewesen. Das Buch «Stille: Ein Wegweiser», in welchem der Bergsteiger Erling Kagge seine Suche nach Stille im Alltag beschreibt, oder der Radio-Podcast «Schweigen – wirklich alles Gold?» von Bayern 2 haben sie beispielsweise inspiriert. Ihr Antrieb, Kunst zu schaffen, sei die komplette Freiheit und das Ungewisse am Anfang eines Projekts: «In der Kunst ist einfach alles möglich und man weiss nie genau, wie, wann oder wo der nächste Schritt kommt.»

 

Dass sie in der Cie. Gangwerk neben dem Tanz und dem Schauspiel auch für die Organisation, Buchhaltung und Kommunikation verantwortlich ist, kommt wohl von Annes Flair für Zahlen. Dieses beweist sie auch ausserhalb ihrer Compagnie, so macht sie auch für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur die Buchhaltung. «Manchmal habe ich schon von einer Karriere im Organisationsmanagement geträumt. Aber mir war immer klar, dass ich mit einem reinen Büro-Job nicht glücklich geworden wäre», sagt Anne, die sich fast nicht ruhig auf ihrem Stuhl halten kann. Immer wieder wechselt sie ihre Position und gestikuliert beim Sprechen mit den Armen. Es scheint, als wäre die Bewegung für sie auch im Sitzen unabdingbar. «Ich mag die Kombination vom bequemen Sitzen und dem spannenden Bewegen.» Letzteres findet sie besonders interessant, weil man beim Tanzen den Raum um sich herum gestalte, während man bei der Arbeit mit dem Kopf den virtuellen Raum bearbeite.

 

Anne ist in Uster aufgewachsen. Ihre Ausbildungen in Bewegungspädagogik, Tanz, Tanztheater und Gesundheitswissenschaften hat die Charakter-Darstellerin vorwiegend in den Niederlanden absolviert: «Das Angebot in der Schweiz konnte ich mir nicht leisten. In Rotterdam, Tilburg und Maastricht, wo ich studierte, gab es schon in den 1990er-Jahren staatlich subventionierte Kunstschulen.» 2007 zog sie zum ersten Mal nach Winterthur – und kehrte seither immer wieder in die Stadt zurück. Zwischenzeitlich verbrachte sie ein Jahr in den Bündner Bergen und eines in Rikon, wo sie 2010 im Circolino Pipistrello mitwirkte. «Meine Arbeit hat mich irgendwie immer wieder hierhergeholt. Auch wenn mir hier der See fehlt», sagt sie und lacht.

 

Auf die Frage, wie ein gewöhnlicher Wochentag bei ihr aussehe, antwortet Anne: «Einen Alltag gibt es bei mir nicht.» Abgesehen davon, dass sie etwa drei Mal wöchentlich als Buchhalterin arbeite, gäbe es wenige Verpflichtungen. «Von Zwängen will ich mich frei machen, deshalb habe ich auch keine Morgenrituale oder so», sagt Anne, die ihr Alter lieber für sich behält: «Mit dem Alter produzieren wir nur weitere Vorurteile, die uns einengen.»

 

Damit sie sich in der Zeit der wegen der Covid-19-Pandemie erlassenen Auftrittsverbote nicht zu sehr in ihren eigenen vier Wänden eingeengt fühlte, hat sie viele Ausflüge in die umliegenden Dörfer der Stadt unternommen. Beispielsweise zum Aussichtspunkt Bäumli, der nahe ihrer Wohnung liegt, aber auch das Schloss Elgg oder die Kartause Ittingen hätten es ihr angetan. «Die Kartause Ittingen ist für mich ein Kraftort», schwärmt sie.

 

In ihrer Zweier-WG fühlt sie sich aber ebenso wohl. Bunt, dennoch schlicht ist die Altbauwohnung eingerichtet. Hier kocht sie sich Tee in ihrer mit grünen Wandfliessen gestalteten Küche. Auf dem Esstisch steht ein Büschel Bärlauch in einem Wasserglas. «Den verwende ich noch für den Salat, das Pesto habe ich schon gemacht», sagt sie und deutet auf den Kühlschrank. Auch im Kulinarischen hält Anne nichts von strikten Regeln: «Am liebsten lasse ich mich inspirieren, streng nach Rezept koche ich nie.»

 

Elena Willi ist Autorin beim Coucou und spielt in der Freizeit ebenfalls Theater.

 

Eva Linder ist selbständige Fotografin. Sie lebt in Zürich.

 


Die Performance «grundRAUSCHEN» von Cie. GangWERK in Koproduktion mit dem Theater am Gleis ist vom 9. bis 11. Juli 2021 um 20:45 Uhr im Morgenland, Winterthur zu sehen. http://gangwerk.info/grundrauschen.html

 

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