Negasi

Verkäufer am Puls der Stadt

Unaufdringlich aber stets zugegen: Negasi Garahassie ist durch seine Arbeit als Surprise-Verkäufer das ganze Jahr durch auf den Strassen Winterthurs unterwegs.

Über der Steinberggasse ist der Himmel noch tiefblau, die Laternen werfen ihr gelbliches Licht auf die eisigen Überreste des gestrigen Schneetreibens. Verkäufer des Wochenmarkts sind mit dem Aufbau der Stände beschäftigt. In zügigen Schritten durchschreiten erste Arbeitsgänger die Gasse. Negasi Garahassie hat seine Arbeit bereits begonnen, eingehüllt in eine dicke, rote Daunenjacke. Er stört sich an der Winterbiese kaum. Die Kälte ist er gewohnt  nicht von seiner Heimat, sondern durch seine Arbeit. Bei fast jedem Wetter verbringt er den Tag im Freien und verkauft das Strassenmagazin Surprise. Vor acht Jahren hat er die Arbeit als Strassenverkäufer angetreten. Mehrmals die Woche fährt er mit dem Zug von Rickenbach nach Winterthur, wo er am Bahnhof, in der Marktgasse, vor dem Manor und regelmässig auch am Markt das Magazin verkauft. Eine Arbeit, die in Ausdauer und Geduld übt. Sein Arbeitspensum bestimmt er selbst.

An jeder verkauften Ausgabe verdient er 2.70 Franken, der Rest geht an die AHV und den Verein Surprise. Durchschnittlich verkauft Negasi 400 Ausgaben im Monat. Die Verkaufszahlen variieren aber stark. Der Mittwoch, wenn vor allem Schüler und Schülerinnen ihren freien Nachmittag in der Stadt verbringen, ist kein verkaufsstarker Tag. Negasi kommt lieber samstags, wenn sich die Stadt mit Shoppingbummlern füllt. Auch der Standort beeinflusst die Verkaufszahlen. Während man am Bahnhof ganztags auf eine breite und vielfältige Menschenmasse trifft, ist das Klientel am Wochenmarkt weitaus homogener. Negasi erzählt, dass er am Dienstag- und Freitagmorgen in der Steinberggasse auffallend viele Hefte verkauft und dadurch das Aufstehen in aller Früh gerne auf sich nimmt. Ausserdem berichtet er von den freundlichen Menschen und netten Begegnungen, die er auf dem Markt hatte.

Negasi Garahassie wirkt sehr zurückhaltend und bescheiden. Dass ich ein Porträt über ihn schreiben möchte, kommt ihm unwahrscheinlich vor. Er willigt dennoch ein, mich auf einen Kaffee zu treffen. Er ist pünktlich auf die Minute. Als er neu in der Schweiz war, musste er sich erst an unsere Pünktlichkeit gewöhnen, sie war nicht selbstverständlich für ihn. Nicht, dass er Mühe gehabt hätte, rechtzeitig zu sein. Für ihn war unsere Zeitbenennung jedoch verschoben. Bis anhin hatte ich nie hinterfragt, warum bei uns der Tag um 6 Uhr beginnt. Erst als ich erfahre, dass in Eritrea die Stunde des Sonnenaufgangs 0 Uhr ist, Mittag um 6 Uhr und Mitternacht um 18 Uhr, wird mir bewusst, dass meine vermeidlich universelle Logik nur eine unter vielen bleibt.

Die Tagesberechnung um Mitternacht statt mit dem Tagesanbruch zu beginnen, ist nur ein Beispiel der kulturellen Unterschiede, an die sich Negasi erst gewöhnen musste. Die Jahresrechnung bezieht sich ebenfalls auf einen anderen Ursprung. In Ertitrea gilt der äthiopische Kalender. Dieser hinkt dem gregorianischen Kalender 7 Jahre und ungefähr 8 Monate hinterher, das Kalenderjahr beginnt am 11. September. Folglich ist Negasis Geburtstag am 1.1. auch keine Besonderheit.

In Eritrea gehört circa die Hälfte der Bevölkerung dem muslimischen und die andere Hälfte dem christlich-orthodoxen Glauben an. Negasi gehört zur zweiten Gruppe.

Ein wichtiger Bestandteil seines Glaubens ist das Fasten. Um Geist und Körper zu beruhigen und sich verstärkt auf Gott zu besinnen, verzichtetet Negasi jährlich einen Monat vor Weihnachten auf sämtliche tierische Produkte, Öle und Wein. Abschliessend findet am 6.1. in der Kirche das Weihnachtsfest statt. Der Gottesdienst beginnt um 20 Uhr und dauert bis 3 Uhr morgens. Es ist eine anstrengende, aber bedeutende Nacht, die sich auch ältere Menschen nur im Notfall entgehen lassen. Die eritreische Gemeinschaft in Zürich ist gross. Negasi hat viele Freunde in der Schweiz, mit denen er die Bräuche und Zeremonien feiern kann.

Seit November 2003 lebt Negasi in der Schweiz. Seine Söhne sind hier zur Schule gegangen. Der Älteste ist 19 Jahre alt und macht eine Lehre bei Migrolino. Mit Stolz zeigt Negasi die Uhr, die er von seinem Sohn zum Geburtstag erhalten hat.

Zurzeit hat Negasi den Aufenthaltsstaus F, eine vorübergehende Bewilligung, die von Jahr zu Jahr verlängert werden kann. Er hofft bei Ablauf der nächsten Frist, endlich den Status B zu erhalten.

 

Im Holz zuhause
Im Holz zuhause
Im Porträt

Ihre Begeisterung für das Holzhandwerk führte Sara Zünd auf traditionelle Wanderschaft durch die Nachbarländer der Schweiz. Nach den Wanderjahren und einem vierjährigen Aufenthalt in Brienz kehrt die…

Über Steine, Striche und die Leere
Über Steine, Striche und die Leere
Im Porträt

Wolfgang S. Weber bezeichnet sich nicht als Künstler, Tuschmaler oder Steinschleifer, sondern als malend, schleifend, und vor allem: als übend. Seine Herangehensweise ist dabei ebenso philosophisch…

«Wir können so viel von unseren Körpern lernen»
«Wir können so viel von unseren Körpern lernen»
Im Porträt

Mit dem eigenen Körper Kunst schaffen – das tut Lyn Bentschik. In- und ausserhalb der Schweiz, unter anderem an der Winterthurer Jungkunst, führt Lyn eigene Werke auf. Lyns Arbeiten wurden mit dem…

Trotz Parkinson: Ein Leben in Farben und Wörtern
Trotz Parkinson: Ein Leben in Farben und Wörtern
Im Porträt

Seit über vierzig Jahren lebt Ruth Geiser mit Morbus Parkinson. Die Diagnose erhielt sie bereits im jungen Alter von 27 Jahren. Trotz der tiefgreifenden Einschränkungen, die dies mit sich bringt, war…