Das Gegenspektakel oder: #BigDreams auf dem Kirchplatz

Das Gegenspektakel oder: #BigDreams auf dem Kirchplatz

Am 9. Oktober stand neben der Stadtkirche eine grellpinke Installation und gab Anlass, um über so einige Themen zu sprechen: Folter, Menschenrechte, den Schweizer Justizapparat, den Fall «Carlos», Medienskandale und ihre Auswirkun-gen, Brian Keller, der zu diesem Zeitpunkt seit mehr als drei Jahren in Einzelhaft sass, Selbsterzählungen, Narrative und die Frage, wie diese sich aufbrechen lassen. Aleks Sekanić stellt in ihrem Artikel die Frage, um was es bei dieser Installation geht.

Alltag und Unterbruch

Samstag, 9. Oktober, 2021. Ein kühler, etwas grauer Tag. In der Winterthurer Altstadt zeigt sich der Alltag in Gestalt von Menschen, die Bekannte zum Kaffee treffen, in Geschäften stöbern, durch die Gassen spazieren, entlang der pastellfarbenen Häuser, bis sie sich – vielleicht, weil sie noch in die Bibliothek wollen oder auf dem Weg von der Markt- zur Steinberggasse sind – auf dem Kirchplatz wiederfinden. Dort erwartet sie an diesem Tag etwas, was für die meisten wohl wenig mit Alltag zu tun hat: ein begehbarer Raum, dessen Wände aus grellpinken Ketten bestehen. Über dem Eingang befindet sich ein Timer mit zwölf Ziffern, der eine Dauer von 3 Jahren, 1 Monat, 22 Tagen, 9 Stunden, 27 Minuten, 23, 24, 25, 26 … mehr und mehr werdenden Sekunden anzeigt. Zwei Personen in roten Kitteln begrüssen Passant*innen, die sich dem Raum nähern. Sie stellen ihnen – mit dem antrainiert unerschütterlichen, provokativen Enthusiasmus, den Vertreter*innen so an sich haben – ihr Produkt namens «Swiss Quality Torture» vor und erklären, wie es in Sachen Folter den «höchsten helvetischen Qualitätsansprüchen: diskret, sauber, effektiv» gerecht werde. Allem voran preisen sie dabei die Isolationshaft, die sich durch «konsequenten Reizentzug und die Minimierung aller menschlichen Kontakte» auszeichne. Angewendet werde dabei die Einzelhaft im Sinne der Mindestgrundsätze der UNO für die Behandlung Gefangener, auch bekannt als die Nelson-Mandela-Regeln. Diese besagen unter anderem, dass Einzelhaft zutrifft, wenn die inhaftierte Person mindestens 22 Stunden am Tag ohne zwischenmenschlichen Kontakt verbringt. Im Fall der «Schweizer Qualitätsfolter» werde die inhaftierte Person in einer Einzelzelle untergebracht, deren 12 Quadratmeter Grundfläche den internationalen Mindeststandards entspreche und auf der sich «bequem die notwendigen sanitären Einrichtungen und das vorgeschriebene Mobiliar» platzieren liessen, wobei das Mobiliar, sprich Bett, Tisch und Sitzgelegenheit, in die Wände einbetoniert sei. Die Absicht hierbei sei es, so erklären die Vertreter*innen, die inhaftierte Person in einer möglichst monoton gestalteten, unveränderbaren Umgebung so lange als möglich innerhalb der «kontrollierten Reizbandbreite» zu behalten. Um ihr dabei täglich den «leider obligatorischen», einstündigen Hofgang gewähren zu können, komme unter anderem ein automatisiertes Schleusensystem zum Einsatz, wodurch die Notwendigkeit für personelle Begleitung entfalle – und mit ihr auch die Möglichkeit für eine zwischenmenschliche Begegnung. Nebst dem Hofgang habe die inhaftierte Person pro Woche eine Stunde Besuch zugute, aber damit dabei «das Gefühl der Isolation weitestgehend aufrechterhalten wird», finde dieser jeweils durch eine Scheibe getrennt statt. Dauert die Einzelhaft länger als 15 Tage am Stück, wird sie laut den Nelson-Mandela-Regeln als Folter gewertet.

Als «herausragendes Beispiel» für den Erfolg ihrer Foltermethode berufen sich die Vertreter*innen von «Swiss Quality Torture» auf den Fall von Brian Keller, einem Inhaftierten in der Zürcher Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies, der 2013 unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt wurde und sich an diesem 9. Oktober seit 3 Jahren, 1 Monat, 22 Tagen, 9 Stunden und knappen 30 Minuten in Einzelhaft befindet. Gerechtfertigt werde diese «Highscore-verdächtige» Massnahme mit dem Schutz anderer Inhaftierter sowie Brians selbst. Überhaupt würden Sicherheitsbedenken grundsätzlich «alles Mögliche begründen», unter anderem, dass Brian alltägliche Requisiten wie Schreibmaterial und Nagelpflege-Utensilien verweigert wurden, er den Hofgang während Jahren nur mit Hand- und Fussfesseln wahrnehmen durfte oder die Wassertemperatur und Dauer der Dusche von ausserhalb der Zelle gesteuert werde. «Aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen und sorgfältiger Umsetzung», schlussfolgern die Vertreter*innen von «Swiss Quality Torture», «wurden im Bereich der Isolationsfolter neue Massstäbe gesetzt». Wer gerne selbst einen Eindruck davon haben möchte, sei eingeladen, den 12 Quadratmeter grossen Raum von innen zu begutachten. Die Vertreter*innen stünden anschliessend für weitere Auskünfte und Fragen zur Verfügung.

Im Raum, dessen Farbe ein paar Töne knalliger ist als das in Schweizer Haftanstalten übliche «Cool Down Pink», befindet sich ein orange-gelbes Cut-Out einer Person. Via Tonspur laufen Berichte über die psychischen Auswirkungen von Einzelhaft. Menschen, allein oder in kleinen Gruppen, gehen in den Raum hinein, lauschen mit gesenktem Kopf der Tonspur, verweilen mehr oder weniger lang, bevor sie den Raum verlassen. Sie erhalten zum Schluss eine Produktbroschüre und ein 15-seitiges Dokument mit dem Titel «Die Brian Chronik» – und wenden sich dann, früher oder später, wieder ihrem Alltag zu. Der Timer tickt weiter.

 

 

Fiktion und Verzerrung

Was passiert hier eigentlich auf dem Kirchplatz? Eine erste Antwort lautet: Theater! Genauer gesagt, der dritte Akt eines Medientheaters, das den Titel #BigDreams trägt und von einem gleichnamigen Kollektiv konzipiert und betrieben wird. Der zuvor erwähnte Brian Keller ist darin allerdings keine erfundene Figur, ebenso wenig sind die Bedingungen seiner Haft Fiktion. Er ist Mitglied des Kollektivs – wegen und zugleich trotz der Tatsache, dass er sich zu diesem Zeitpunkt seit mehr als drei Jahren in Einzelhaft in der JVA Pöschwies befindet. Brian mag für einige noch ein Unbekannter sein, aber vielleicht, liebe*r Leser*in, hat die Nennung des Falls «Carlos» vorhin etwas in dir hervorgerufen? Möglicherweise erinnerst du dich an Schlagzeilen, Meinungsartikel, Gegenmeinungsartikel, Diskussionsrunden, Dokus und Bilder. Wann hast du zum ersten Mal von «Carlos» gehört? Und wann zuletzt? Was ist dir von der Geschichte geblieben? Warum genau das? Wo fängt die Geschichte an, wo hört sie auf?

Der Anfang von «Carlos» lässt sich einfach datieren: Am Sonntag, 25. August 2013 läuft im Schweizer Fernsehen ein Porträt über einen Zürcher Jugendanwalt. Brian, der 2011 ein schweres Gewaltdelikt begangen hat, befindet sich aufgrund einer richterlichen Anordnung für eine ambulante Behandlung in einem strengen therapeutischen Sondersetting. Im Film wird kurz erklärt, wie es zu dieser Massnahme gekommen ist, und Brian, pseudonymisiert zu «Carlos», wird aufgrund der Fortschritte, die er im Sondersetting gemacht hat, als erfolgreiches Beispiel vorgestellt. Die Bilder zeigen den damals 17-Jährigen beim Thaibox-Training sowie in der Wohnung, in der er aufgrund des Settings lebt und engmaschig von einem interdisziplinären Team betreut wird. Auf Nachfrage nennt der Jugendanwalt die Kosten für diese Behandlung: 29'000 Franken pro Monat. «Sozial-Wahn! Zürcher Jugendanwalt zahlt Messerstecher Privatlehrer, 4 ½-Zimmer-Wohnung und Thaibox-Kurse. Kosten: 22'000 Franken [sic] pro Monat», titelt die Boulevardzeitung Blick am darauffolgenden Dienstag – und setzt damit eine mediale Skandalisierung in Gang, die in der Schweiz ihresgleichen sucht. Weitere Zeitungen greifen das Thema auf. Bis Juni 2014 erscheinen laut einer Studie der Universität Zürich 1'053 Medienartikel, die sich dem Fall widmen – je nachdem mit mal mehr, mal weniger Qualitätsanspruch: Die Berichterstattung generell und die der Boulevard- und Gratismedien insbesondere orientiere sich in diesem Zeitraum stark am Einzelfall, allgemeinere Themen, wie zum Beispiel das Jugendstrafrecht, hätten weit weniger Bedeutung. Der Ton reiche von «ausgeprägt emotional-moralisch» (Boulevard-, Gratis- und einzelne Wochen- und Sonntagsmedien) bis zu «kognitiv-rational» (Abo-Medien). Die kritische Selbstreflexion der Medien sei dabei «praktisch inexistent». In den darauffolgenden Jahren wird «Carlos» durch die anhaltende Berichterstattung zum Label, zum Gemeinplatz, zur Projektionsfläche – ein Phantom in der Schweizer Medienlandschaft, das oftmals und zum Teil noch bis heute gleichgesetzt wird mit der Person, die hinter dem Pseudonym steckt.

  

  

Sichtbarkeit und Perspektive

Aber zurück zum 9. Oktober 2021, zum Kirchplatz und zur Frage: Was passiert hier eigentlich? Eine zweite Antwort lautet: Es wird Sichtbarkeit geschaffen. Da ist die Zelle mit den pinken Ketten, die auf etwas verweist, was an diesem Tag, an diesem Ort, sonst kaum zur Sprache kommen würde. Da ist aber auch die «Brian Chronik», die den Interessent*innen ausgehändigt wird und die festhält, was sich vor, während und nach dem Medienhype um den Fall «Carlos» in Brians Leben ereignet hat. Sie dokumentiert sämtliche Aufenthalte von Brian in geschlossenen Einrichtungen und Gefängnissen. Zum ersten Mal wurde er als 10-Jähriger inhaftiert – für zwei Monate, weil er fälschlicherweise der Brandstiftung beschuldigt worden war. Die Chronik bietet unter anderem einen Überblick über die Institutionen, mit denen Brian als Kind und Jugendlicher in Kontakt kam; über die Delikte, die er als Jugendlicher begangen hat; über Freiheitsstrafen, die er als Minderjähriger teilweise in Erwachsenengefängnissen und in Einzelhaft verbüsst hat; über die Behandlungen in Psychiatrien; über das Sondersetting, das aufgrund des Drucks, den die mediale Konstruktion des Falls «Carlos» ausgelöst hatte, plötzlich abgebrochen wurde; über die widerrechtliche Inhaftierung, die dieser Abbruch für Brian zufolge hatte; über die Male, die er sich unschuldig in Untersuchungshaft befand; über die Behandlung im Gefängnis Pfäffikon, die später als «unmenschlich» im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention eingestuft wurde; über die Tatsache, dass Brian sämtliche Straftaten, die er sich in Freiheit zuschulden kommen lassen hat, in der Zwischenzeit verbüsst hat und sich zu diesem Zeitpunkt seit mehr als drei Jahren in Einzelhaft in der JVA Pöschwies befindet – aufgrund eines Zwischenfalls, der sich ebendort ereignet hat.

Die Chronik, recherchiert und verfasst von humanrights.ch, einer Informations- und Beratungsorganisation für Menschenrechte, macht dies weder beschönigend noch mitleiderregend, weder in Bezug auf Brian, der zusammengerechnet mehr als 8 seiner 26 Lebensjahre in Gefängnissen und geschlossenen Einrichtungen verbracht hat, noch im Bezug auf die staatlichen Akteur*innen, die dabei involviert waren und sind. Vielmehr zeugt sie von Wechselwirkungen und vermittelt ein Bild davon, in welchem Ausmass der Schweizer Justizapparat Einfluss auf Brians Leben hatte.

 

 

Störung und Korrektur

Eine dritte Antwort auf die Frage, was hier passiert, lautet: Passant*innen werden aus ihrem Alltag gerissen und auf nicht menschenwürdige Haftbedingungen hingewiesen. Die pinke Installation auf dem Kirchplatz ist aufmerksamkeitsheischend, ermöglicht aber einen Einblick in das Leben von Brian – dessen Haft in der JVA Pöschwies in den vergangenen Jahren zwar medial aufgegriffen wurde, aber nie das Ausmass vom Medienhype um den Fall «Carlos» erreicht hat. Weder die Chronik noch die Tatsache, dass Brian sich zu diesem Zeitpunkt seit mehr als drei Jahren in Einzelhaft mit Spezial-Sicherheitsregime befindet, wird auf dem Kirchplatz zum ersten Mal publik gemacht. Was jedoch neu ist, ist die Art, mit der die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird: mit einer physischen Präsenz im öffentlichen Raum und einer Inszenierung, bei der die Realität auseinandergenommen und derart wieder zusammengesetzt wird, dass sie irritierend wirkt – etwas, was nur im Rahmen einer künstlerischen Intervention machbar ist. Zudem ist es, wie bereits erwähnt, der dritte Akt eines Theaters.

Seine Anfänge nimmt das Projekt 2019, nachdem Brian bei einem Gerichtsprozess äusserte, dass er bei seinem richtigen Namen – und nicht «Carlos» – genannt werden möchte. Daraufhin haben die Initiator*innen von #BigDreams ihn per Brief kontaktiert und mit ihm das Kollektiv gegründet. Mit den Einschränkungen, die eine Einzelhaft im speziellen Sicherheitsregime mit sich bringt, konzipieren sie #BigDreams als multimediales, interdisziplinäres Theater, das es zum Ziel hat, aus «Carlos» Brian zu machen – und eine Wiederholung von Brians Fall zu verhindern. Ein Vorhaben, das sich zwar kurz zusammenfassen lässt, aber gewichtige Fragen behandelt: Welche Rolle, welche Verantwortung und welchen Einfluss haben Medien? Welche Strukturen ermöglichen es, dass ein Schicksal wie das von Brian in einer Demokratie möglich ist? Was bedeutet das für die Schweiz? Und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

Um diese Fragen ins öffentliche Bewusstsein zu tragen, macht das Kollektiv Gebrauch von verschiedenen Formaten, Kanälen und Methoden – gegliedert in fünf Akte. Für den Prolog wählen sie als ersten Spielort die mediale Öffentlichkeit. Am 21. Mai 2021, als im Zürcher Obergericht der Prozess um den Vorfall in der JVA Pöschwies vom Juni 2017 aufgenommen wird, weist eine Installation vor dem Gerichtsgebäude auf die Website bigdreams.ch hin. Dort aufgeschaltet ist der «Critical Newsticker», dessen Fokus nicht auf dem Prozess, sondern auf der Berichterstattung rund um Brians Fall liegt. In Repliken nimmt das Kollektiv Stellung zu der Art und Weise, wie über Brian berichtet wird, analysiert die Narrative, die dabei vermittelt werden, und zeigt anhand von Beispielen auf, wie diese von rassistischen, stereotypen und voreingenommenen Denkmustern geprägt sind.

Im ersten Akt postete das Kollektiv handverfasste Briefe von Brian auf dem Instagram-Account mein_name_ist_brian – er erhält somit Mitsprache an dem Gespräch, das seit 2013 über ihn geführt wird. In den Kommentarspalten sammelt sich eine breitgefächerte Palette an Fragen, Meinungen und Diskussionen, von denen ein Teil an ihn weitergeleitet wird.

Am 25. August 2021, 8 Jahre, nachdem die Doku «Der Jugendanwalt» ausgestrahlt wurde, lanciert das Kollektiv als zweiten Akt einen Webshop mit Produkten, die den Medienskandal von 2013 und seine Auswirkungen thematisieren. Ziel sei es, einen zweiten Fall «Carlos» zu verhindern – und die Boulevardzeitung Blick eines Tages aufzukaufen.

Der Schwerpunkt des dritten Akts liegt auf Brians Haft in der JVA Pöschwies – was uns zur Installation «Swiss Quality Torture» bringt, die im Herbst auf verschiedenen öffentlichen Plätzen im Kanton Zürich Halt macht. Teil dieses Akts ist auch ein Beitrag, der in der Ausstellung «Wohin? Künstlerische Investigationen» im Helmhaus Zürich gezeigt wird. Das Kollektiv thematisiert dabei die ablehnende Haltung der kantonalen Behörden, insbesondere die des Justizdepartments, in Bezug auf das Bestreben des Projekts, Brian Zugang zur Öffentlichkeit zu ermöglichen. Ausgestellt sind die Korrespondenz des Kollektivs mit den Behörden, handverfasste Texte von Brian sowie die Chronik. Den Abschluss des dritten Akts bildet ein Aktionstag, der vor der JVA Pöschwies hätte stattfinden sollen, von der Kantonspolizei jedoch aufgrund von Sicherheitsbedenken untersagt wurde. Die geplanten Veranstaltungen – unter anderem ein Podiumsgespräch mit Nils Melzer, der als UNO-Sonderberichterstatter für Folter 2021 aufgrund von Brians mehr als dreijähriger Einzelhaft beim Eidgenössischen Department für Äusseres interveniert hat – finden stattdessen im Kunstraum Walcheturm statt.

Für den vierten Akt begibt sich das Kollektiv ins Theater Neumarkt und lässt an vier Abenden in einem Boxring gegeneinander antreten: «Macht der Medien vs. Brians Journale», «Human Rights vs. Strafvollzug», «Monster vs. Society», «#BigDreams vs. Reality». Dabei beschäftigen sich in Podien, Workshops und Performances diverse Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen mit Menschenrechten, strukturellem Rassismus, Medienökonomie, Erzählungen und Gegenerzählungen. Die letzte Veranstaltung wird live im Radio übertragen, was es Brian ermöglicht, trotz Sicherheitshaft daran teilhaben zu können – 3 Jahre, 3 Monate und 2 Tage zeigt der Timer an diesem Tag an. Der fünfte Akt, gibt das Kollektiv auf Nachfrage an, habe bereits begonnen, gewisse Ziele seien bereits gesetzt, der Ausgang aber noch unklar.

Trotz der Transdisziplinarität des Projekts ist das, was #BigDreams bis anhin gemacht hat, Kunst – oder vielleicht eher: unter den gegebenen Umständen nur im Rahmen eines Kunstprojekts möglich. Ähnlich wie Träume im selben Zug dekonstruktiv und konstruktiv zugleich sind, führt das Projekt Bestehendes so zusammen, dass Neues entstehen kann – und schafft dadurch verschiedene Denkräume, Vorstellungen, Zugänge zu dem, was war, was ist, was sein könnte. Auf die Frage, wie er die Mitarbeit am Projekt bis anhin erlebt hat, antwortet Brian: «Es ist schön, denn wir konnten im Projekt über wichtige Themen sprechen. Und es ist wichtig, dass auch in der Kultur über Rassismus und Menschenrechte geredet wird. Das fand ich sehr gut am Projekt. Ich bin ein Mensch, der sich für vieles interessiert und eigentlich alles mitmachen kann. Ich habe ja auch nichts zu verlieren. Gerade hier im Gefängnis sowieso, da kann ich dies machen oder das, am Schluss sitze ich ja trotzdem noch hier drin.»

 

 

Veränderung

 

Trotz aller Inszenierung (im Sinne von Künstlichkeit) versucht das Projekt die Wahrnehmung reeller Gegebenheiten in einer breiten Öffentlichkeit zu beeinflussen und die bereits bestehende – und teilweise auch neu entstandene – Aufmerksamkeit um Brians Fall umzulenken. Sei es online, im Museum oder auf dem Kirchplatz, durch Mitsprache, in Form von Kritik oder mittels einer Inszenierung, bei der man, unerwartet aus dem Alltag gerissen, anfangs nicht mit Sicherheit sagen kann, was davon Realität ist und was Fiktion. Die öffentliche Wahrnehmung ist dabei die Ebene, die #BigDreams als Projekt am ehesten mitbestimmen kann – und zugleich eine, die eine grosse Rolle in Brians Fall spielt: Auch wenn aus «Carlos» wieder Brian wird, so lässt sich Brians Leben ohne den Medienskandal von 2013 und seine weitreichenden Auswirkungen schlichtweg nicht erzählen.

 

Auf die Frage, was sich in den letzten zwei Jahren verändert habe, antwortet das Kollektiv: «Die Geschichte von «Carlos», dem gefährlichen, gewalttätigen Ausländer, ist in den Hintergrund gerückt. Stattdessen fangen mehr Leute – unter anderem Medienschaffende, Aktivist*innen, Politiker*innen, Kulturschaffende – an, Brians Geschichte zu erzählen, die aber eigentlich eine Geschichte über uns alle ist: über Justizversagen, mediale Hetze, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus. Unterdessen gehen die meisten Medienschaffenden umsichtiger mit dem Pseudonym um und bemühen sich um eine ausgewogenere Berichterstattung. Dies hat zum einen damit zu tun, dass die Komplexität von Brians Fall breiter bekanntgeworden ist und diverse Akteur*innen sich dafür eingesetzt haben, auch seine Perspektive zu berücksichtigen. Zweifellos stehen heute die Justizbehörden unter strenger Beobachtung von NGOs und Medien, die sich dafür interessieren, wie es in Brians Fall weitergehen soll. Die internationale und nationale Kritik an Brians Isolationshaft hat Wirkung gezeigt und wir hoffen sehr, dass auch ein Teil der Öffentlichkeit für die Problematik seines Falles sensibilisiert werden konnte.»

«Praktisch nichts», antwortet Brian auf die Frage, was sich in den letzten zwei Jahren für ihn konkret verändert hat. «Hier drin ist immer alles gleich. Mal schauen, wie es in der Zukunft weitergeht.»

 

 

 

 

Nachtrag:

Im Dezember 2021 nimmt der Fall eine Wendung: Das Bundesgericht hebt das Urteil des Zürcher Obergerichts vom Mai 2021 auf, weil dieses sich nicht ausreichend mit Brians Vergangenheit beschäftigt habe.

Wenige Tage, bevor diese Ausgabe in Druck geht, wird überraschenderweise verkündet, dass Brians Einzelhaft in der JVA Pöschwies aufgelöst und er in den kommenden Tagen in ein normales Untersuchungsgefängnis verlegt werde. Was genau das bedeutet, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.

 

#BigDreams
ist ein vielstimmiges Kollektiv. Das Kernteam besteht aus Brian Keller, Daniel Riniker, Sabina Aeschlimann, tobibienz und Benjamin Burger. Weitere Infos gibt es unter bigdreams.ch.
 
Akt 3 und 4 von «#BigDreams» sind in Ko-Produktion mit dem Theater Neumarkt entstanden und zu Teilen in der Mediathek einsehbar: www.theaterneumarkt.ch.
  
«Die Brian Chronik» ist auf www.humanrights.ch online einsehbar und wird laufend weitergeführt.

 

Aleks Sekanić ist Autorin und Redaktorin beim Coucou, lebt, schreibt und arbeitet in Winterthur und entdeckt gerne vollkommen Neues an altvertrauten Plätzen. Die Gespräche mit dem Kollektiv wurden telefonisch und schriftlich geführt im Zeitraum vom 15.12.2021 bis 12.01.2022.

 

Hannah Gottschalk ist Fotografin und visuelle Künstlerin.

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