Fideretten

Wäre es nicht faszinierend, wenn es eine ganz originale winterthurer Literatur gäbe? Ach, die gibt es ja! «Fideretten» entfalten Eydus zu kurzen Geschichten über unsere Stadt. Du willst auch ein Eydu entfalten? Melde dich bei: aleks.sekanic@coucoumagazin.ch

DIE FIDERETTE VON DEN WOLKEN AUS MÜLL

(Dezember 2021)

Wie schade, dass man / Wolken aus Müll machen kann, / doch sonst praktisch nichts. – Kehrichtverbrennungsanlage (Shane Jocelyn Keller): Die Wolkisierungstechnologie hat das Leben in Winterthur grundlegend verändert. Woche für Woche bringen die Leute ihren Müll zur Kehrrichtswolkisierungsanlage (KWA). Dort wird er gereinigt und in neue Ware verwandelt. Diese wird anschliessend gebündelt und wolkisiert: Sprich, ein Warenknäuel wird himmelwärts vaporisiert, wo dieser wolkengleich ein bis zwei Wochen schwebt und dann in die Strasse niederregnet. Dieser Prozess wurde der Natur abgeschaut. Durch ihn wird der Weg der Ware über den Markt eingespart. Ein Wunderwerk der Rationalisierung! Die Bevölkerung wird in den Nachrichten über die – relativ sanften – Niederschläge informiert. Pro Jahr sind höchstens vierzig bis fünfzig Todesfälle zu beklagen – häufig Touristen. Ein zumutbarer Kollateralschaden. Wer etwas braucht – Mixer, Fernseher, Toaster, Besteck, Samurai-Schwerter, Matratzen, etc. –, sammelt die Regen-Ware ein. Was übrig bleibt, vermodert in den Strassen bis es sonntags bei den kollektiven Müllsammelaktionen von den Leuten zurück in die KWA gebracht wird. Dort wird die Ware aufbereitet, wolkisiert, um erneut auf die Stadt niederzuregnen. Waren-, Müll-, Warensammeln. Die Leute haben sich an den Kreislauf gewöhnt.

 (Fiderettiert von Poetograph J.S.)

DIE FIDERETTE DES MORPHTØK

(Dezember 2021)

«Spinnfleichrig mauch! Liechteurippel gionnen drorobig, ‹Stampfen› pflapfern allemb Zasseln. Merigel dun zaburken! Ruckschirrde Zirke, ruckschirrde! Nierel görnterschalugen trackelgantig dun Halmergezimb!», schrie der Feuerkäfer panisch und alarmierte die Zikaden und Asseln, von denen eine rief: «Rotbaumonu panone reba vibrarone ruscheironu! Garsissone halmutzerigone lubtrofrinneb ibleb! Ibleb! Ibleb! ‹Stampfen›!». Und munkelnd kommentierte der Molch: «Sü zörschgringär sü wächgär ‹Stampfen›. Schurdrün süsü zörschgringärö än Zorgrischrin. Nort.» Über allem sagt ein Mensch da zu sich: «Ach, die Kinder spielen auf der Wiese Fangen! ‹Musikschule // Noten in der Luft / Gejauchze von dem Spielplatz / Wünsch wär auch so jung› (Lana Lor)».

 (Fiderettiert von Poetograph J.S.)

 

DIE FIDERETTE VOM EULACHFÄHRMANN

(Dezember 2021)

Eulach // Ins Dunkle verbannt / plätschere ich leis’ dahin / Kein Fährmann kreuzt mich (Dimitri Dünki): Der Fährmann hat sich zu uns gesetzt und erzählt, dass die Füchse wieder näherkommen. Der Fährmann hat erzählt, dass die Blutbuchen sich kein weiteres Mal grün färben werden. Der Fährmann hat erzählt, dass die Rehe angefangen haben, bei Leermond ihr Gesicht zu zeigen. Der Fährmann hat erzählt, dass der Goldenberg innwendig bröckelt, wir uns aber keine Sorgen zu machen brauchen, zumindest noch nicht. Der Fährmann hat erzählt, dass die Graureiher von nun an in Schwärmen unterwegs sein werden. Der Fährmann hat erzählt, dass die Insekten bald ihr Gericht halten werden und die Molche grosse Pläne haben. Der Fährmann konnte uns nicht erklären, was genau das für uns bedeutet. Der Fährmann hat sein Bier ausgetrunken und erzählt, dass die Eulach wieder steigen wird. Der Fährmann hat sich ein weiteres Bier bestellt und erzählt, dass er bald wieder mal die Eulach kreuzen wird. Wie bald, haben wir gefragt. Der Fährmann hat uns keine Antwort gegeben.
(Fiderettiert von Poetographin A.S.)

 

DIE FIDERETTE DER THUJA

(Dezember 2021)

Friedhof Seen / Spitzer Thuja-Baum / Du hast den Mond aufgespiesst – Die Toten sind stumm  (Kitty Barandun): Ein kleines Friedhofsbäumlein, ganz kränklich und klein, versuchte schon sein Leben lang hoch zu wachsen. Doch so sehr es auch an der Erde über den Gräbern zehrte, gedieh es keinen Meter. Stumm warteten die Toten darauf das kleine Bäumlein unter ihnen zu begrüssen. Doch der kleine Spross gab nicht auf, er wollte doch endlich eine grosse Thuja werden! Eines Vollmondnachts streckte er sich mit aller Kraft und siehe da, seine Äste begannen langsam zu spriessen. Es raunte und zischte unter dem Totenacker. Im grellen Mondlicht warfen die raschelnden Blätter wirre Schatten über die Gräber, als die Baumspitze immer schneller und schneller in die Höhe trieb. Begeistert begannen die Toten im Sprechchor die grosse Thuja anzufeuern. Ihr Stamm wurde immer dicker und überragte längst den Kirchturm, während ihre Blätter die matten Nachtwolken zur Seite drückten. Immer dunkler wurde es über dem Friedhof als die Thuja weiter und weiter in den Nachthimmel schoss. Doch dann: ein fürchterlich lautes Rumpeln, gefolgt von tiefster Finsternis. Die Thuja hatte den Mond aufgespiesst. Und die Toten waren wieder stumm.
(Fiderettiert von Poetograph C.K.)

 

DIE FIDERETTE DES SÄGEWERKS VOM ESCHENBERG

(Dezember 2021)

Bernsteingolden flirrt / Harzstaub im Tannenwind, jetzt, / schrillt silbern Metall – Sägewerk Eschenberg (1): So stand es da, das Sägewerk vom Eschenberg, das der Bärlauch-Eber auf seinen wöchentlichen Streifzügen passierte. Woche für Woche wurde es grösser, denn all die Bäume, die darin zu Brettern zerlegt wurden, wurden dazu benutzt, das Sägewerk auszubauen. So wurde Baum für Baum gefällt – um das Sägewerk Raum für Raum zu erweitern und so noch schneller noch mehr Bäume in Räume zu verwandeln – in jene Räume zu verwandeln – in denen Bäume zu Brettern zerlegt werden – um aus den Brettern Räume zu bauen – Räume – in denen Bäume zu Brettern zerlegt werden – Bretter – aus denen Räume gebaut werden – Räume – in denen Bäume zu Brettern zerlegt werden – Bretter – aus denen Räume gebaut werden – in denen Bäume zu Brettern zerlegt werden – Bretter … und so fort, und so endlos fort.
(Fiderettiert von Poetograph J.S.)



DIE FIDERETTE VOM TAUSENDBLATT

(Februar 2022)

«Mammutbaumhimmel. / Eis bedeckt den Teich, tannen- / grünes Algenriff. – Walcheweiher» (Jusaleks Schmekastein) Wenn kein Sonnenlicht mehr die Mammutbäume1 bestrahlt, erscheint manchmal ein sanftes grünes Leuchten im grössten der drei Walcheweiher. Manche fühlen sich von ihm angezogen. Sie waten ins Wasser, lassen sich treiben und versinken, wie von hundert kleinen Fängen ergriffen, eine Weile in den Riffen des quirlblättrigen Tausendblattes2. – Dieser Ritus war besonders verbreitet unter denjenigen, die im Rosental lebten. Eines Tages allerdings befreite ein Mähboot den Weiher vom Tausendblatt. Die Stadtverwaltung hatte ihre Wassergärtnerei dazu beauftragt. Nach der Säuberung verschwand das Leuchten. Und die Rosental-Siedlung veränderte sich. Leute schmückten die Gartentore mit kleinen Habseligkeiten. Rasen wucherten zu Wiesen, Weiden, Gestrüpp. Das Dickicht grünte hemmungslos. Rabenschwärme begannen öfters in der Gegend zu nisten. Igel sich vor den westlichen Häuserwänden zu tummeln. Die Hauskatzen und Wachhunde verschwanden. Und mit der Zeit wurden die Menschen des Rosentals immer stummer. Ihre Haare, ihre Nägel länger. Ihre Haut dicker, schuppiger, borkiger und schliesslich hölzern. Der Stein ihrer Häuser moosig, flechtig, borkig und schliesslich hölzern. Winterthur vergass das Rosental und die Leute, die dort lebten. So verschwand die Siedlung oberhalb der drei Walcheweiher.

 

1 Stadtforstmeister Max Siber pflanzte die zwei markanten «Sequoiadendron giganteum» um 1900.

2 Das quirlblättrige Tausendblatt ist eine Wasserpflanze, die im Walcheweiher wächst.
(Fiderettiert von Poetograph:innen S.B – A.S. – J.S.)

DIE FIDERETTE VOM LAGERPLATZ
(Februar 2022)

«auf den lagerplatz / fallen - dann wieder aufstehn / sind das die skills4?» (Livia Kozma) – Das Vorderrad rutschte in eine der Strassenschienen4. Er riss den Lenker zur Seite. Es half nicht. Sein Velo und er stürzten auf den steinernen Boden. Die Jeans des Velofahrers waren zerfetzt. Aus einer Wunde schwelte Blut. Verwundert starrte der Gestürzte auf die aufgerissene Haut. Die Wunde sah so aus, als wäre sie ein: Y. Wie Gleise, die sich spalten, an einem Bahnhof vorbei führen, neben dem sich Häuser befinden, die sich zu Quartieren zusammensetzen, welche eine Stadt konstellieren, die umringt ist von sieben Hautwölbungen und einer blauen Vene. Der Gestürzte starrte auf die Muster dieser Gewebeformation. Sie schien zu wachsen. Sie wuchs. Er schien in ihr zu versinken. Er versank. Aus seiner Wunde quoll eine Stadt empor. Wurde grösser. Lebensgross. Überlebensgross. Sie sah aus wie Winterthur. Doch sie bestand aus seinem Blut und Gewebe. Und er war ein Körper in dieser riesigen Gewebe-Stadt, ein Blutkörperchen. Schliesslich löste sich die Stadt von der Wunde ab und versickerte im Stein, aus dem die alte Stadt errichtet war. Eine überlebensgrosse Flechte blühte um den Gestürzten. Er stand auf und schob sein Velo humpelnd nach Hause. Seither achtet er genauer auf die Körper anderer. Seither entdeckt er an allen und allem solche kleinen Weltwunden. Und eben diese nennt man in Winterthur «skills».

 

3 Im Skillspark (Erlebnissporthalle) toben sich Kinder auf Trottis, Skateboards, Inline-Skates und Erwachsene an der Boulderwand aus.

4 Am Lagerplatz feiert man heute mitunter im Kraftfeld, schaut Filme im Kino Cameo, trinkt Wein im Les Waggons. Doch noch immer verlaufen die Werkbahn-Schienen der ehemaligen Sulzer Industrie durch ihn – erinnern an Winterthurs industrielle Vergangenheit, machen den Platz «wintik».
 (Fiderettiert von Poetograph J.S.)

Polynja
Polynja
Poetographie

Hörtext von Marc Herter.

der turm
der turm
Poetographie

heute ein extra grosses müesli. energie für einen aufregenden tag.