Island – Schweiz: Zwei Musikwelten

Sonderfall Island, Normalfall Schweiz: Warum die kleine Insel international erfolgreiche Bands am Laufmeter produziert – und wir nicht.

«Zuerst kam Björk und dann Sigur Rós – und alles wurde anders.» – Jóhannes Ágústsson  sitzt auf einem Sofa im Untergeschoss seines Plattenladens «12 Tónar» in Reykjavík. Und während er von der isländischen Musik, ihrem Wandel, ihrer Mystik und ihrem Erfolg erzählt, wandern meine Augen über die Regale voller Tonträger. Viele davon tragen isländische Namen: «Mammút», «Sólstafir», «Ásgeir», «Sóley»«Pétur Ben» ... «Wenn du in Reykjavík lebst, dann spürst du sie richtig, diese musikalische Energie. Du merkst: Es liegt etwas in der Luft», erzählt Ágústsson. Der Isländer spricht gemächlich, mit ruhiger, ja manchmal fast flüsternder Stimme. Und dennoch spürt man aus jedem Wort und jeder Pause heraus: Dieser Mann liebt die Musik, und er liebt Island. Zwei Dinge, die anscheinend ohnehin zusammengehören. Denn Bands sind von der Insel ebenso wenig wegzudenken wie Elfen und Trolle.

 

( Soley live im KEX Hostel in Reykjavik)

 

Kaum ein Land hat in letzter Zeit musikalisch so Furore gemacht wie Island mit seinen etwa 325'000 Einwohnern. Kaum ein Land war stärker an den für Musiktrends bedeutenden Festivals dieser Welt vertreten. Erst gerade im Januar war Island das Fokus-Land am «Eurosonic» in den Niederlanden: Neunzehn isländische Bands spielten an dem zu den wichtigsten Musikveranstaltungen der Welt gehörenden Festival, um auf sich aufmerksam zu machen. 1200 Gigs spielten Bands aus Island 2014 im Ausland, «lediglich» 700 waren es noch zwei Jahre zuvor. Island erobert die Welt.

«Björk» und «The Sugarcubes» sowie «Sigur Rós»sind schon längst internationale Giganten. «GusGus», «FM Belfast», «Of Monster and Men» und «Emiliana Torrini» sind zumindest Stars, «Kiasmos» und «Ásgeir» auf dem Weg, welche zu werden. Und weitere folgen:  «Sóley», «Sin Fang», «Sólstafir», «Low Roar», «Mammút» und andere zeigen immer eindringlicher ihr Potential. Und der Komponist Jóhann Jóhannsson wurde dieses Jahr für seine  Musik zu «The Theory of Everything» für einen Oscar nominiert in der Kategorie «Bester Soundtrack».

 

Wie ist das möglich in einem Land mit 325'000 Einwohnern ? Einem Land, in dem mehr Schafe als  Menschen gibt, in dem Kurven um unsichtbare Trollhäuser gebaut werden und in dem 13 Prozent des Landes von Gletschern und ewigem Schnee bedeckt sind? Und wieso zum Teufel ist das in der Schweiz nicht möglich?

 

Wenn die Stadt zur Musik wird

Die Spurensuche für den Erfolg im Ausland beginnt im Inland: Es ist eher ruhig an diesem Sonntagnachmittag in Reykjavík. Ich schlendere durch die Altstadt, an den Musikbars vorbei und biege in die Skólavörðustígur ein, an deren Strassen-Ende gerade die spärlichen November-Sonnenstrahlen die Kirche «Hallgrímskirkja» mit ihrem imposanten Turm beleuchten. Auf halbem Weg erscheint auf der linken Seite der «12 Tonar». Der Plattenladen ist mittelmässig besucht, er wirkt ein wenig verkatert, ebenso wie seine Besucher: Deutsche, Italiener, Briten, Amerikaner, Schweizer. Gerade ging das «Iceland Airwaves Festival» zu Ende. Eine Woche lang war die Stadt im Ausnahmezustand: 675 Acts spielten an 52 über die ganze Stadt verteilten Orten. Halb Island schien zum Beispiel Schlange zu stehen vor dem Opern- und Konzerthaus «Harpa», um den Singer-Songwriter Ásgeir zu hören. Und auch zu «FM Belfast» tanzten bierselig der ehemalige Bürgermeister Reykjaviks und mit ihm tausende weitere Isländerinnen und Isländer an vorderster Front mit. Im Streifzug durch die unzähligen Bars, Keller, Kaffees und Läden konnte man von Morgen bis Abend isländischen Musikern und Musikerinnen zuhören, über Musik diskutieren und Bier oder isländischen Kümmel-Schnaps trinken (letzteres sei lieber nicht empfohlen, wirklich grausam, das Zeugs), zum Beispiel in der «Bar 11»,  im «Kaffibarinn»,  in der «Bunk Bar» oder im «Kex» und wie sie alle heissen.

 

(FM Belfast Live im Harpa am Iceland Airwaves '14)

(Ásgeir live in der Nordic Playlist Radio Bar am Iceland Airwaves '14)

«Hier hängen alle in denselben Bars und Orten ab. Man kennt sich, man ist befreundet, man arbeitet zusammen», sagt Jóhannes Ágústsson. Auch der «12 Tonar», welcher gleichzeitig auch ein Label ist, gehört zu diesen Musik-Hotspots der Insel. Es herrsche in der isländischen Musikszene eine Atmosphäre, die neue Ideen begünstigte. «Hier wird viel Neues angerissen, vieles ausprobiert, man unterstützt einander». Ein Beispiel: Als Björk beim Autofahren die Lieder von Ásgeir hörte und ihre Tochter mitsang, empfahl sie den Musiker ihrem Label – der Deal kam zustande.

«Island» als Label

Kleinräumige Strukturen, alternative Bars, eine übersichtliche Musikszene die sich kennt und die immer wieder neue Kollaboration eingeht als Erfolgsfaktoren – das macht Sinn. Aber das alles haben wir in der Schweiz auch. Und dennoch, so der intuitive Eindruck, haben wir in der Schweiz irgendetwas nicht, was Island hat. Nur, was ist es?

 Vielleicht ist es dieser «Hang zum Aussergewöhnlichen», der überall in der Musik spürbar ist. Oder dieses «Isländische», dieser  gemeinsame, mystische Nenner, welcher aller Musik, welche von der Insel aus die Welt erobert, inhärent erscheint,  den man aber nicht genau in Worte fassen kann. Oder die intensive Förderung: Unter anderem unterstützt der «Iceland Music Export» (kurz: IMX) gezielt isländische Bands im Ausland.  Oder – noch profaner – ist die Musik in Island einfach lukrativer? Das «Airwaves» wird veranstaltet von der isländischen Fluggesellschaft. Jahr für Jahr kann sie so im kalten November unzählige Touristen und Touristinnen auf die Inseln locken. Tourismus und Kreativ-Wirtschaft sind für Island seit der Krise wichtiger geworden.

Zwei Monate nach dem Airwaves sitzen Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen von «Kiasmos» im «Kiff» in Aarau und denken über ihren eigenen Weg ins Ausland und die Gründe für den Erfolg isländischer Musik nach. «Wir hatten nie einen Plan B neben der Musik», sagen sie. «Das ist vielleicht dumm, aber zum Glück ging Plan A auf.» In zwei Stunden werden sie vor vollem Haus spielen, einen Tag zuvor traten  sie am Eurosonic auf. Im Oktober 2014 veröffentlichten sie mit «Kiasmos» ihr Debüt-Album beim Londoner Indie-Laber «Erased Tapes» – seither sind sie eine der am heisstesten gehandelten Elektro-Bands in Europa. «Nun ja, vielleicht haben wir einfach ein gutes Album gemacht», sagt Ólafur Arnalds lächelnd auf die Frage nach dem Grund.  Aber auch Arnalds und Rasmussen sprechen von der isländischen «Community», welche sich gegenseitig unterstützt. Zudem sei für die isländischen Musiker klar: «Willst du Platten verkaufen, musst du das Ausland erreichen. 325'000 Einwohner reichen nicht.» Darum würden isländische Bands diesen Weg vielleicht konsequenter gehen. «Björk und Sigur Rós haben hierfür den Weg geebnet», sagt Ólafur Arnalds. «Sie machten isländische Musik im Ausland salonfähig. Das war wie ein goldener Pass für die nachfolgenden Musiker, um das zu machen, worauf sie Bock hatten», ergänzt Janus Rasmussen. Auch sie sehen diesen Island-eigenen Sound als Erfolgsfaktor.

 

(Kiasmos live im «Kex» am Iceland Airwaves '1)

 

Auch Schweizer Bands im Ausland, aber..

«Was gibt es eigentlich für Schweizer Bands, die momentan im Ausland bekannt sind?»,  fragen mich Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen ehrlich neugierig. Ich versuche es mit: «Sophie Hunger» – «Ah ja, die kenn ich. Mit ihr haben wir mal gespielt!», sagt Arnalds. Ich erwähne ein paar weitere Namen – Kopfschütteln. Eine magere Ausbeute.

Die Schweizer Musik, ein im Ausland erfolgloses Produkt also? «Nein, ganz und gar nicht», entgegnet Jean Zuber ein paar Tage später auf Anfrage. Zuber ist Geschäftsleiter von «Swiss Music Export , ein Gemeinschaftsunternehmen verschiedener Institutionen wie «Pro Helvetia», «Fondation Suisa» oder «Migros Kultuprozent», welches wie sein isländisches Pendant einheimische Musik im Ausland fördert  «Die Ansicht, dass die Schweiz punkto Musik im Ausland nichts zu melden hat, ist ein Vorurteil», sagt Zuber und nennt ein paar Beispiele: «Bastian Baker, Boy, Stephan Eicher, 77 Bombay Street, Disco Doom, Klaus Johann Grobe, Bonaparte, James Gruntz... sie alle können im Ausland Erfolge feiern.» So sei «Boy» in Japan sehr erfolgreich und «Klaus Johann Grobe» gerade in England mit den «Temples» auf Tour gewesen.

 

 

33 Musiker und Musikerinnen und Projekte wurden 2013 von «Swiss Music Export» finanziell gefördert  und Showcases an Festivals wie dem «Great Escape» oder dem «Eurosonic» organisiert. Insgesamt 470'000 Franken standen 2013 für die Musikförderung zur Verfügung. Das klingt nach viel, ist aber gemessen am Jahresaufwand relativ bescheiden. Gleichwohl ergibt sich zusammen mit spezifischen Förderungen, beispielsweise durch Pro Helvetia oder Migros Kulturprozent sowie Unterstützung durch die Kantone ein Fördernetz.  Für Jean Zuber ist dies mit ein Grund, wieso die Wertschätzung von Schweizer Musikerinnen und Musikern seiner Meinung nach im Ausland gestiegen ist: «Vor acht Jahren musste ich ausländische Booker davon überzeugen, sich Sophie Hunger anzuhören. Heute sind sie viel positiver gegenüber Schweizern Musiker eingestellt.»

 Alles in Butter also mit der Schweizer Musikpräsenz im Ausland? Jane Wakefield, Geschäftsführerin der Winterthurer Musikfestwochen, sieht dies ein bisschen anders: «Schweizer Musik fristet international im Vergleich mit anderen Ländern nach wie vor ein Schattendasein.» Man könne sich natürlich nicht mit Deutschland oder England vergleichen, wohl aber beispielsweise mit Belgien, das weitaus mehr international erfolgreiche Bands hervorbringe. Einen der Gründe dafür sieht Wakefield bei den Bands selbst: «Viele Schweizer Bands suchen den Erfolg nicht mit aller Konsequenz. Es ist für viele ein Hobby, aber nicht mehr.» Gleichzeitig sieht sie aber auch Probleme in der Förderung: Zum einen seien die Mittel sehr gering und die Möglichkeiten demensprechend klein. Und zum anderen gebe es im Vergleich zu Island auch keine «Schweizer Identität», welche man vermarkten könnte: «Die Schweizer Popkultur verfügt über keinen Stempel.»

Tatsächlich scheitere ich trotz intensivem Brainstorming am Versuch, die Schweizer Musikszene mit drei Adjektiven zu charakterisieren. Positiv umdeuten kann man dies so: Wir leben Vielfalt. Und negativ so: Wir orientieren uns zu sehr am internationalen Durchschnitt und verlieren dadurch an Kontur. Der Vorwurf, in der Schweiz werde vor allem Mainstream gefördert, ist zwar eine alte Socke, aber sie riecht hartnäckig: Wiederholt muss sich das Schweizer Radio der Kritik stellen,  schweizerisches Musikschaffen abseits des Mainstreams an die Randzeiten zu drängen. Aber auch diese Kritik am Mainstream ist mittlerweile Mainstream und muss fairerweise relativiert werden – so auch beim Swiss Music Export: Zwar werden viele «nette» Bands und Musiker wie «Bastian Baker» gefördert, aber eben auch weniger zugängliche Projekte wie «Klaus Johann Grobe». «Wir haben den Luxus, beides zu tun», sagt Geschäftsleiter Jean Zuber. Symptomatisch dafür ist zum Beispiel, welche Bands die Radiostationen SRF3 und Couleur3 in Zusammenarbeit mit dem Swiss Music Export am Eurosonic präsentierten:  Auf der einen Seite die Wunsch-Schwiegersöhne von «77 Bombay Street», auf der andern Seite die in Winterthur wohlbekannten Rocker «Hathors».

 

Warten auf den Urknall? 

Einzig auf Mainstream zu setzen, kann man der Exportförderung nicht vorwerfen. Vielleicht aber fehlenden Mut. Denn noch immer ist die  Hauptfrage dieses Artikels unbeantwortet: Wieso sind die Isländer punkto Musik so viel erfolgreicher als wir? Zwar gibt es durchaus auch Schweizer Bands im Ausland, die wirklich grossen Erfolge bleiben aber momentan aus. Wenn man die beiden Länder vergleicht, lässt eigentlich nur ein Unterschied eine einleuchtende Erklärung zu: Island setzt mit Konsequenz auf das «Spezielle» -  wie kein anderes Land. Die regelrechte Kultivierung von schwermütigen oder brachialen Melodien führte dazu, dass die Marke «Island» auf dem ausländischen Musikmarkt fassbar wurde. Die Schweiz hingegen orientiert sich – wie viele andere Länder auch – eher am Durchschnitt.

Wir hatten in der Vergangenheit sehr erfolgreiche Musikerinnen und Musiker im Ausland und auch heute ein paar, welche von sich hören lassen. Aber wir haben keine Björk und keine Sigur Ros. Wir hatten keinen solchen musikalischen Urknall. Nun können wir auf diesen warten – oder wir können auch einfach versuchen, ein bisschen mutiger zu sein und der in der Musikindustrie wie auch in den Bands verbreiteten Tendenz entgegentreten, sich allzu sehr an dem zu orientieren, was «international» ist  – um so vielleicht irgendwann auch Sonderfall anstatt Normalfall zu sein. 

Es sei denn, Jóhannes Ágústsson oder Kiasmos haben uns noch einen Tipp? «Macht gute Musik und geht den Weg damit mit aller Konsequenz», sagen «Kiasmos» und verschwinden auf die Bühne. «Hm, das ist schwierig. Macht einfach, was ihr wollt», sagt Jóhannes Ágústsson auf seinem Stuhl im «12 Tónar» und fügt an: «You know, in the end it’s just music by the heart.» Wo sie recht haben, haben sie recht. Diese Isländer.

PS: Wer sich ein wenig durch die isländische Musikszene hören will: Hier die Playlist der Isländischen Künstler am Iceland Airwaves 2014

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