Wohnungslos statt obdachlos

Wohnungslos statt obdachlos

Immer mehr Menschen aus dem unteren Mittelstand leben in «versteckter Obdachlosigkeit». Auch in Winterthur steigt die Zahl der Wohnungslosen. Eine Reportage über die Suche nach einem Notschlafplatz.

Ziellos läuft Nathalie* durch die Strassen von Winterthur. «Was mache ich jetzt?» Die junge Frau ist wie gelähmt, kann keinen klaren Gedanken fassen, kämpft mit den Tränen. «Nein, ich kann nicht zurück. – Aber wohin dann? Freunde fragen, ob ich auf dem Sofa schlafen kann?» – «Liebes! Sind gerade in den Bergen. Nächste Woche mal Kaffee?», schreibt eine Freundin zurück. «Jugendherberge? Hotel? Notschlafstelle? Campingplatz? Im Freien übernachten? Und was danach? Ein WG-Zimmer lässt sich ja nicht von heute auf morgen finden...» Auf dem Smartphone prüft Nathalie die Preise von Hotels und Jugendherbergen. Die Kreditkarte hat sie nicht dabei, auf dem Konto kein Geld und im Portemonnaie noch vierzig Franken. Also doch die Notschlafstelle?

Nathalie entspricht nicht dem gängigen Bild einer Person, die plötzlich auf der Strasse steht. Die 24-jährige Studentin war mehrere Wochen auf Reisen. Sie brauchte eine Auszeit, um herauszufinden, wie es nach dem Studium weitergehen soll, und um einige Dinge zu verarbeiten: Die verschlechterte Stimmung in ihrer WG, gesundheitliche Probleme eines Familienmitglieds, das Ende einer Beziehung und der Leistungsdruck an der Uni belasteten die junge Frau psychisch. Zwar hatte sie vor der Abreise bereits ein neues WG-Zimmer organisiert. Doch kurz vor ihrer Heimkehr kam die Nachricht, dass es mit dem Zimmer nun doch nicht klappen würde. Sie zog kurzfristig zu den Eltern – und war dadurch plötzlich wieder mit einem Problem aus der Vergangenheit konfrontiert: häusliche Gewalt.

Wenn viele Probleme zusammenkommen, braucht es nur wenig, dass das Leben aus den Fugen gerät: Ein Beziehungskonflikt, wodurch der Partner oder die Partnerin aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss oder vor die Tür gesetzt wird. Ein Arbeitsplatzverlust, der zu längerer Arbeitslosigkeit führt. Finanzielle Schwierigkeiten. Eine Wohnungskündigung. Betreibungen. Jugendliche, die es zuhause nicht mehr aushalten oder von den Eltern rausgeworfen werden. Die Gründe, warum jemand plötzlich auf der Strasse steht und eine Notlösung suchen muss, sind sehr verschieden. Jede und jeder Obdachlose hat eine ganz eigene Geschichte zu erzählen.


Zehn Personen pro Nacht

Im Durchschnitt suchten 2014 in Winterthur pro Nacht 10.5 Personen die Notschlafstelle der Heilsarmee an der Habsburgstrasse 29 auf. Die Anlaufstelle für in Not geratene Menschen ohne Übernachtungsmöglichkeit stellt 12 Betten zur Verfügung. Die meisten der Personen, die hier übernachten, sind der Leiterin Marina Brunner bekannt. Viele kommen immer wieder. Die 38-Jährige leitet die Institution seit zweieinhalb Jahren. Zusammen mit vier Mitarbeiterinnen deckt sie sieben Tage die Woche den Nachtbetrieb von sieben Uhr abends bis neun Uhr morgens ab. Vor allem Drogenabhängigkeit und psychische Probleme fordern das Personal: Die Zahl der Personen, die von der Notschlafstelle in eine psychiatrische Klinik weiterverwiesen wurden, hat sich gegenüber 2012 mehr als verdoppelt, von 11 auf 26 Fälle. «Manche sind verhaltensauffällig und können sich im betreuten Wohnheim der Heilsarmee nicht an Regeln und Absprachen halten. In der Notschlafstelle gibt es weniger Regeln, an die sie sich halten müssen, und somit auch weniger Reibungsflächen», sagt Marina Brunner. Hinzu kommen Personen, die aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurden und keine Anschlusslösung haben», sagt die Leiterin der Institution.

Das Telefon vibriert. «Ui, sorry, erst jetzt gesehen. Bin in Zürich. Was ist denn los?» – «Konflikt mit meiner Mutter eskaliert...Kein Zuhause...Kein Geld für Jugendherberge...» – «Oje...irgendeine Lösung gibts da schon... melde mich, wenn ich zurück bin (in 1.5 Stunden).» Nathalie setzt sich in ein Café, sucht im Internet nach günstigen WG- Zimmern. Mehr als 700 Franken pro Monat für ein Zimmer auszugeben, kann sie sich nicht leisten. 1500 Franken pro Monat verdient sie neben dem Studium. Der Spielraum ist klein. Sie versucht sich abzulenken, beginnt in den Philosophie-Texten für die Uni- Seminararbeiten zu blättern, das einzige, was Nathalie – als sie fluchtartig ihr Zuhause verliess – mitnehmen konnte...

Die Stadt verzeichnete in den letzten Jahren einen klaren Anstieg bei der Nachfrage nach Notschlafplätzen und Notwohnungen. Mark Wiedmer, Sprecher der Sozialwerke Pfarrer Sieber, stellt in Zürich denselben Trend fest. «Die Nachfrage war im Sommer um einiges höher als jetzt im Winter. Wir platzten fast aus allen Nähten», sagt Marina Brunner. «Generell lässt sich aber für keine Jahreszeit eine erhöhte Nachfrage feststellen.» In der kalten Jahreszeit würden sich die betroffenen Personen auf mehrere Stellen verteilen, die nur im Winter geöffnet haben. Ganz günstig ist eine Übernachtung allerdings nicht: Eine Nacht im Durchgangsheim kostet für Personen aus Winterthurer 95 Franken, für Auswärtige 110 Franken. In Zürich zahlen Obdachlose zwischen 50 und 100 Franken. Die Stadt übernimmt für Armutsbetroffene eine Defizitgarantie, falls diese die Übernachtung nicht bezahlen können.

Es sind nicht nur Menschen, die sozial an den Rand gedrängt sind, die das Durchgangsheim aufsuchen: «Bei uns übernachtete auch schon ein Arzt, der seinen Job verloren hat», erzählt Marina Brunner. Es sind oft einsame Menschen ohne gut funktionierendes, soziales Netzwerk, die in Not das Durchgangsheim aufsuchen. «Tendenziell beherbergen wir auch immer mehr junge Menschen um die zwanzig. Oft sind es junge Erwachsene mit Suchtproblemen, vielfach auch ehemalige Heimkinder. Viele der Gäste haben einen 80er-Jahrgang, es gibt aber auch immer wieder Frührentner und Rentnerinnen, die bei uns anklopfen.» Drei Viertel davon seien Männer, oft auch solche, die von der Partnerin auf die Strasse gestellt wurden. «Frauen haben ein besseres Netzwerk, sprechen mehr über Probleme und kommen in Notsituation schneller bei Freundinnen und Freunden unter», sagt die Leiterin.

Das Telefon klingelt. «Wenn du magst, kannst du die nächsten drei Tage bei mir auf dem Sofa übernachten.» Nathalie ist erleichtert. Für drei Nächte hat sie einen Ort zum Übernachten gefunden. «Und, was hast du angestellt?» – Die junge Frau weiss nicht, was sie darauf antworten soll. Sie zuckt mit den Schultern, lässt sich nichts anmerken, während sie von Emotionen fast zerrissen wird. Die Erinnerungen an die Gewalt, die sie in ihrer Jugend erfahren hat, schnüren ihr die Kehle zu. «Hätte ich bleiben sollen? Mich wieder schlagen lassen? Bin ich schuld?» Es sind solche Gedanken, die ihr in diesem Moment durch den Kopf gehen. Schlafen kann Nathalie in dieser Nacht nicht. Am nächsten Morgen zieht sie sich in die Stadtbibliothek zurück und versucht zu arbeiten. Am Nachmittag steht eine WG-Besichtigung auf dem Plan. 40 Bewerber und Bewerberinnen, im Fünf-Minuten-Takt können sie sich vorstellen. Nathalie – eigentlich eine fröhlich, aufgestellte junge Frau – ist nicht in der Stimmung zu Smalltalk. Eine Woche später erhält sie eine Absage.

Nicht repräsentativ

Die Personen, die die Notschlafstelle aufsuchen, geben kaum eine repräsentative Auskunft über die Situation der Wohnungslosen. Auch wird nicht aufgezeigt, wer in diese Situation gerät. Gerade wenn Betroffene wie Nathalie bei Freundinnen oder Freunden unterkommen, werden sie nicht von den städtischen Organisationen registriert. Obdachlos ist in Winterthur amtlich gesehen niemand. Während in Zürich bei Minustemperaturen aktiv Kältepatrouillen auf der Strasse unterwegs sind und laut Christian Fischer, Betriebsleiter von Sicherheit Intervention Prävention (SIP), rund ein Dutzend Personen auf der Strasse antreffen, ist der Stadtpolizei nur eine Person bekannt, die zurzeit ab und zu, aber nicht regelmässig im Freien übernachtet: «Die Person ist der Stadtpolizei seit Jahren bekannt und lehnt jegliche Unterstützung und Angebote der Stadt ab», sagt Peter Gull auf Anfrage.

Immer mehr Menschen aus dem unteren Mittelstand leben in «versteckter Obdachlosigkeit». Sie wohnen wochenweise mal hier, mal da, bei Bekannten oder Verwandten. «Es sind spürbar mehr Leute in Not als noch vor ein paar Jahren», sagt Lars Schädeli, Leiter der Wohnhilfe Winterthur beim Sozialdepartement. Einzelpersonen oder vor allem Familien ziehen von Notwohnung zu Notwohnung, froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Wohnungssuche beansprucht dabei viel Energie. Gerade Armutsbetroffene haben schlechte Karten auf dem Wohnungsmarkt, wie Barabra Heusser von der Mobilen Sozialarbeit subita und Christoph Sommer von der CASA-Anlaufsstelle der Heilsarmee feststellen. Es gebe immer mehr Wohnungssuchende, die über Monate, manche sogar über zwei bis drei Jahre hinweg nach einer bezahlbaren Wohnung suchen. Betreibungsauszüge, gesundheitliche Probleme oder auch finanzielle Probleme seinen für viele VermieterInnen ein Faktor, sich gegen Suchende zu entscheiden. Und die Warteliste bei Genossenschaftswohnungen sei lang.

«Für 470 bis 500 Personen (davon sind 40 Prozent Kinder) vermittelt die Stadt Winterthur zurzeit Wohnungen. Es sind vor allem Einzelpersonen und Grossfamilien, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben», sagt Lars Schädeli von der Wohnhilfe. 150 Personen würden zudem dringend eine Wohnung benötigen. Vorübergehend wohnen sie im von der Stadt und der Heilsarmee betreuten Wohnheim oder im Durchgangsheim. Der Verein Noah stellt ebenfalls Notwohnungen zur Verfügung.

Wohnungsnot als grosses Problem

Im Kanton Zürich beziehen 100'000 Menschen – also 7,6 Prozent – Sozialleistungen, weil ihr Einkommen nicht zum Leben reicht. Dazu gehören auch sogenannte «Working Poor», die für einen zu niedrigen Lohn arbeiten müssen, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Rentnerinnen mit AHV-Zusatzleistungen. Die Dunkelziffer ist gross: Laut Studien der Caritas beziehen etwa 60 Prozent der eigentlich Berechtigten keine Sozialleistungen. Caritas Zürich betreut vor allem Menschen, die zu viel verdienen, um Anspruch auf Sozialleistungen zu erheben, aber zu wenig, um unvorhergesehene Ausgaben bewältigen zu können.

Eine Studie des Sozialdepartements, durchgeführt von der Arbeitsgruppe «Günstiger Wohnraum/Notplätze Winterthur aus dem Jahr 2010, zeigt, dass vor allem Haushalte mit geringem Einkommen keinen oder nur schwer bezahlbaren Wohnraum finden. Die Sozialhilfe stellt 1000 Franken für die Miete zur Verfügung. Die Studie zeigt ebenfalls, dass die Wohnungslosigkeit Personen betrifft, die nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind.

Die Leerwohnungsziffer in der Schweiz beträgt laut Bundesamt für Statistik gerade mal 0,6 Prozent (2013). Nicht nur Grossstädte gelten als Brennpunkte der Wohnungsnot, auch auf dem Land ist die Wohnsituation zunehmend schwierig. Auch in Winterthur ist seit etwa fünf Jahren eine Wohnungsnot feststellbar. «Angebot und Nachfrage ist nicht ausgewogen», sagt Lars Schädeli von der städtischen Wohnhilfe. Zwar wechseln etwa 15 Prozent der Bevölkerung den Wohnraum – im Vergleich ist das ein normaler Wert –, aber der Zugang zu günstigem Wohnraum, der zwar vorhanden wäre, wird nicht frei, weil gut Verdienende billigen Wohnraum besetzen.

«Hey. Hab gehört, dass du dringend einen Platz zum Schlafen suchst... Komm zu uns! Wir haben ein Zimmer für die nächsten drei Monate frei.» – Ein Angebot, das Nathalie gerne annimmt. Doch nicht alle haben das Glück, wie die junge Frau in kurzer Zeit eine Lösung zu finden. Viele verbringen Monate in Notunterkünften und suchen von dort aus eine neue Wohnung oder einen neuen Job. Einsamkeit und die Verzweiflung, nichts zu finden, führen oftmals zu weiteren psychischen Problemen. Geld vom Staat zu beziehen, bedeutet für viele eine grosse Hürde. Zudem erschwert die Hilfe vom Sozialamt nicht nur die Wohnungssuche, sondern ist auch bei der Jobsuche hinderlich. Es ist ein Teufelskreis: Wer seine Arbeit verloren hat, bekommt keine Wohnung und wer keine Meldeadresse vorweisen kann, ist chancenlos auf dem Arbeitsmarkt.

* Name geändert.

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