Das Winterthur der Zukunft

Wie sieht die Zukunft unserer Stadt aus? Dieser Frage geht das Winterthur Urban Forum Ende November nach. Coucou hat im Vorfeld fünf Experten, Kunstschaffende und Winterthurer Persönlichkeiten nach ihren Zukunftsvorstellungen gefragt.

Zukunft – kaum ein Begriff ficht den Status Quo mehr an. Zukunft bedeutet zwangsläufig Wandel, Veränderung, Entwicklung. Deshalb ist das Wort den Bequemen unbequem, deshalb löst es bei den Wohlgestellten und TraditionalistInnen Angst aus und deshalb kann es für jene, die leiden, ein Hoffnungsschimmer sein.

Auf die Schweiz kommt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten viel Veränderung zu: mehr alte Menschen, mehr geografische und soziale Mobilität, mehr Durchmischung, eine zunehmende Urbanisierung, neue aussenpolitische Fragen und innenpolitische Herausforderungen. Von diesen Entwicklungen wird auch Winterthur betroffen sein. Wie wird die Zukunft die Stadt formen? Wie sieht Winterthur in zwanzig oder dreissig Jahren aus? Welche Rolle wird den Quartieren zukommen? Und welche Rolle spielen wir? Erkennen wir unsere Stadt noch? Erkennen wir uns selbst noch?

Das Winterthur Urban Forum befasst sich Ende November drei Tage lang gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Städtebau, Architektur, Philosophie und Wissenschaft mit der Stadt der Zukunft. Das Coucou hat im Vorfeld dazu verschiedene Personen gefragt, wie sich Winterthur in den Bereichen Architektur, Mobilität, Kultur und Wohnen verändern wird.

Klar ist: Mit Zukunft kann auf zweierlei Art umgegangen werden. Wir können sie als Gefahr sehen und zu verhindern versuchen. Dann akzeptieren wir, dass die Zukunft nichts anderes sein wird als eine verknöcherte, leere Version der Vergangenheit. Oder man sieht sie als Aufgabe und Möglichkeit und gestaltet sie aktiv mit – im Quartier, in der Stadt.

 

Quo vadis Winterthur? — Von Michael Künzle,

Stadtpräsident von Winterthur

 

Wie sieht die zukünftige Stadt Winterthur aus? Mit welchen Herausforderungen und Entwicklungen sehen wir uns konfrontiert? Wie gehen wir mit dem Wachstum oder dem demografischen Wandel um? Wie wird sich Winterthur städtebaulich und gesellschaftlich weiterentwickeln? Wo führt uns die technologische Entwicklung hin? Ist es heute, vor dem Hintergrund unserer schnelllebigen und unberechenbaren Zeit, überhaupt möglich, die Zukunft zu planen?

Mit diesen und ähnlichen Fragen hat sich die Winterthurer Stadtregierung in den letzten Monaten befasst, sie hat daraus Schlüsse gezogen und erste Beschlüsse gefasst. Dass sich das «Urban Forum» im Rahmen des Stadtrechtsjubiläums ebenfalls solchen Fragen widmet zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Zukunft wichtig ist und breit geführt wird. Das Forum wird wertvolle Inputs liefern, wie es mit einer Stadt, mit unserer Stadt, weitergehen soll.

Der Stadtrat hat erstmals auf zwölf Jahre hinaus festgehalten, welche Schwerpunkte er bearbeiten will. Winterthur 2026 bildet den zeitlichen Horizont. Wir sehen Winterthur als eigenständiges, urbanes Zentrum im Wirtschaftsraum Zürich und als Tor zur Ostschweiz. Wir wollen die Arbeitsplatzzahlen in den nächsten Jahren deutlich erhöhen. Die Unternehmen – bisherige und neue – sollen sehr gute Rahmenbedingungen haben.

Bei aller Entwicklung soll die Stadt ihre Stärken und ihre Identität bewahren. Winterthur bleibt eine Stadt mit hoher Lebensqualität und einem ausgeprägten gesellschaftlichen Zusammenhalt, bleibt eine Kultur-, Bildungs- und Gartenstadt. Räumlich wird sie neu geprägt durch zwei Zentren: Altstadt und Sulzerareal Stadtmitte einerseits und das Entwicklungsgebiet Neuhegi-Grüze andrerseits. Die bipolare Stadt. Der Stadtrat versucht, die Zukunft zu antizipieren und mit seinen politischen Entscheiden die Geschicke der Stadt in die richtigen Bahnen zu lenken. Dies alles dient dem Zweck, Winterthur als lebenswerte und wirtschaftlich prosperierende Stadt für alle zu erhalten und sie in eine aussichtsreiche Zukunft zu führen. Darum geht es dem Stadtrat bei all seinem Tun. Und deshalb sieht er dem «Winterthur Urban Forum» gespannt entgegen und ist offen für überzeugende neue Erkenntnisse und Ideen.

 

Vielfalt macht Stadt  — Von Regula Iseli und Stefan Kurath, Leitende des Instituts Urban Landscape im Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der ZHAW

 

Winterthur wird oft und gerne als Gartenstadt beschrieben. Doch wird diese Vereinfachung Winterthur auch gerecht? Wenn man die Menschen in Töss, Oberwinterthur, Wülflingen und Seen fragt, wodurch sich Winterthur auszeichnet, bekommt man ebenso unterschiedliche Antworten, wie wenn verschiedene Altersgruppen zu Winterthur und dessen Eigenarten befragt werden. Winterthur bedeutet Vielfalt und Vielfalt macht Stadt.

Die Entwicklung nach innen wird auch in Winterthur in den nächsten Jahrzehnten eine Rolle spielen. Dies weil sich eine Mehrheit der Stimmberechtigten im Kanton Zürich mit der Kulturlandinitiative zur Begrenzung der Bauzonen dafür ausgesprochen hat. Die innere Verdichtung wirft Fragen bei den Betroffenen auf. Was heisst das für mein Wohnumfeld? Was geschieht mit den Freiflächen? Werde ich in zehn Jahren mein eigenes Quartier, Winterthur noch erkennen? Veränderungen lösen nicht nur Fragen, sondern auch Ängste und Unsicherheit aus, weil in der Regel andere darüber entscheiden. Der oft genannte Dichtestress hat denn auch weniger mit der Realität als vielmehr mit der Überforderung zu tun, sich etwas vorzustellen, das es (noch) nicht gibt.

Eine Verdichtung nach innen muss keineswegs «blosses» Überbauen bedeuten, sondern kann ein gleichzeitiges Berücksichtigen und Weiterführen des Bestehenden sein, mit dem Ziel, Mehrwerte zu schaffen. Dies betrifft die Altstadt im gleichen Mass wie die Quartiere. Zentral ist, dass die Vielfalt der einzelnen Quartiere aufrechterhalten wird und so massgeschneiderte Konzepte für die Verdichtung von Einfamilienhaussiedlungen, die Entwicklung der Industrieareale, für Genossenschaftsareale, Gewerbeflächen und auch für die Instandstellung der Altstadt entwickelt werden. Verdichtung bedeutet keineswegs nur «mehr» Geschossfläche, sondern beispielsweise auch eine Verdichtung der Angebote im öffentlichen Raum, gemischte Nutzungen in Arealüberbauungen, eine Verdichtung des Wohnraumangebotes für die unterschiedlich einkommensstarken Bewohner und Bewohnerinnen von Winterthur. Es sind auch die zentralen Aufgaben einer öffentlichen Hand, eine Stadtentwicklung für alle und nicht für Einzelne zu betreiben. Eine Entwicklung nach innen ist zudem auch eine Chance für jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns und vor allem für unsere Umwelt.

 

Grammatik der Wohnpolitik —Von Marco Salvi, Ökonom beim Think Tank Avenir Suisse

 

Objekt oder Subjekt? Wenn es um Wohnpolitik geht, wird diese Frage zu selten gestellt. In der Schweiz sind die Eckpfeiler der städtischen Förderungsmassnahmen seit über 80 Jahren weitgehend unverändert geblieben. Im Zentrum stand und steht die Objektförderung, also die Verbilligung von Wohnraum. Diese erfolgt vermehrt indirekt mit der Abgabe von städtischem Bauland im Baurecht und der Gewährung von zinslosen Baukrediten an Baugenossenschaften. Ist diese Art der Subventionierung zielgerichtet? Mitnichten, wie eine neuere Analyse der Stadt Zürich (zwischen den Zeilen) zeigt. Dort stellt man fest, dass ein Drittel der Einwohner der Wohnbaugenossenschaften zum reichsten Drittel der Einwohner gehört. Sie kämen auch auf dem nicht subventionierten privaten Markt zurecht.

 Dieser Paradox im Wohnungsmarkt ist nicht zufällig sondern liegt in der Natur der Objektförderung. Es ist kaum möglich sicherzustellen, dass in den Wohnungen stets die «richtigen» Personen leben. Schlimmer noch: Im nicht-subventionierten Bereich befinden sich zahlreiche potenziell geeignete Kandidaten, die jedoch nicht in den Genuss von Förderungen kommen, weil sie in keine entsprechende Wohnung einziehen konnten. Dazu hilft auch nicht, dass die Genossenschaftsmieter, wenn sie mal eingezogen sind, kaum mehr ausziehen werden (sie würden ja die Subventionierung verlieren), auch wenn ihre Wohnung ihren Bedürfnissen nicht mehr entspricht.

 Mit der Subjektförderung lässt sich dies vermeiden: Da das Wohngeld nicht an eine bestimmte Wohnung gekoppelt ist, stimmen Wohnbedarf und tatsächlicher Konsum überein. Weiter erhalten sämtliche Haushalte, welche die Kriterien erfüllen, eine Subvention; nicht nur jene, die das richtige Los gezogen haben. Und nicht zuletzt werden damit die Kosten der Wohnbauförderung transparent gemacht. Grund genug, die Subjektförderung als Alternative ernsthaft zu prüfen.

Ein Tram für Winterthur — Von Klaus Zweibrücken, Professor für Verkehrsplanung an der Hochschule für Technik Rapperswil (HSR)

 

Die siedlungsverträgliche Bewältigung des motorisierten Verkehrs und ein Umlenken in eine nachhaltigere Entwicklungsrichtung ist auch in Winterthur eine der grössten Herausforderungen an die Mobilität der Zukunft. Dabei geht es auch darum, eine bessere Abstimmung von Siedlungs- und Verkehrsentwicklung zu erreichen. Die Stadt Winterthur hat 2011 mit dem städtischen Gesamtverkehrskonzept (sGVK) die Weichen in diese Richtung gestellt. Das sGVK beschreibt ein Zukunftsbild für die städtebauliche Entwicklung, macht aber auch Zielvorgaben für den Modal Split, das heisst für die künftige Aufteilung der Verkehrsströme auf die verschiedenen Verkehrsmittel. Demnach soll, in Übereinstimmung mit dem vom Winterthurer Stimmvolk angenommenen Gegenvorschlag zur sogenannten «Städteinitiative», der Anteil des nichtmotorisierten und öffentlichen Verkehrs von heute 60 auf 68 Prozent im Jahr 2025 steigen. Der Anteil des motorisierten Verkehrs soll im gleichen Zeitraum von 40 Prozent auf 32 Prozent sinken.

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, sollten die Investitionen vor allem in Richtung des öffentlichen Verkehrs und des Fuss- und Radverkehrs erfolgen. Die derzeitige Situation mit generell knappen finanziellen Ressourcen ist auch eine Chance, die Verkehrsinvestitionen gezielt in Richtung von Verbesserungen für den Fuss- und Radverkehr zu lenken, weil diese Investitionen kostengünstiger sind und im Gegensatz zu Investitionen in den motorisierten Verkehr auch nachhaltige Wirkung entfalten. Mittels sogenannter «Hochleistungskorridore» für den Stadtbus soll gemäss sGVK die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit des ÖV weiter erhöht werden. Daneben gilt es, die Rolle Winterthurs als Velostadt auszubauen.

Wenn die landesweit prognostizierten Zunahmen bei den Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr zutreffen, wird man sich auch in Winterthur mittel- bis langfristig Gedanken über die Renaissance eines schienengebundenen Verkehrsmittels machen müssen, wie es zum Beispiel in der Stadt St. Gallen bereits geschieht. Vorbild ist in dieser Hinsicht unser Nachbarland Frankreich, wo nach den Grossstädten nun auch Städte in der Grössenordnung von unter 150‘000 EinwohnerInnen reihenweise neue Tramkonzepte entwickeln und in Rekordzeit realisieren. Die Verknüpfung neuer Tramstrecken mit den Stadtentwicklungsstrategien führt dabei zu einem Quantensprung in Richtung nachhaltiger Mobilität.

 

Kultur hinter jeder Ecke — Von Sebastian Herzog, Fotograf und Betriebsleiter im Kulturlokal Kraftfeld. Er arbeitet zudem in einem Heim für schwererziehbare Knaben

 

Ich glaube, Winterthur mag mich nicht. Da gibt es nichts zu verübeln, ich mag Winterthur häufig auch nicht. Und trotzdem wohne ich da, arbeite da und geh sogar hier aus. Vorwiegend an Anlässe, bei denen ich die Finger im Spiel habe, aber auch an solche, die an Orten stattfinden, die ich nicht als Zweitwohnsitz angeben müsste. Dazu gehören: FCW-Spiele, im Bruderhaus schauen wie es den Wölfen geht, Fotomuseum, Feierabendbier in der Altstadt, Vernissagen, den Flohmarkt leer kaufen, illegale Parties besuchen, Kino- und Theaterbesuche, mit Leuten auf der Strasse sprechen, einen ganzer Nachmittag öffentlich auf einem Bänkchen sitzen, die Kurzfilmtage, die Musikfestwochen, die Baustelle unter der Weinlandbrücke bewundern, mich mit Leuten vom Kebabstand streiten oder mit meiner Freundin im Rosengärtli knutschen.

All diese Punkte haben zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Sie sind Teil des Lebens in einer Stadt. Zweitens: Sie sind Kultur.

Gewisse Kultur wird unterstützt und andere ist einfach da. Gratis bereitgestellt, versteckt hinter jeder Ecke, aber für viele Winterthurerinnen anscheinend unsichtbar. Denn abgesehen von wenigen Ausnahmen, wird das oben umrissene «Kulturangebot» sporadisch und nur von kleinen Gruppen genutzt. Ideen, wie diese Situation verändert werden könnte gibt es viele. «Freiräume schaffen» wird zum Beispiel immer wieder genannt. Und klar, ich finde auch, dass die Polizei wieder vermehrt Verbrecher jagen und verloren gegangenen Kindern helfen soll, statt Velofahrer im Vögelipark zurechtzuweisen und Bars nach Ladenschluss nach Rauchern abzusuchen. Ich finde auch, dass es Orte geben muss, wo man bis spät Nachts ungestört laut sein kann.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass von den offiziell 106'287 Einwohner nur ein Bruchteil dazu bereit ist, diese Stadt zu beleben. Wer das nicht glaubt, soll mal an einem Sonntagnachmittag von Töss nach Oberi spazieren. Obacht, nicht erschrecken, wenn einem plötzlich ein Mensch begegnet. Die Bevölkerung dieser Stadt muss darin bestärkt werden, dass sie an einem guten Ort wohnt, wo viel möglich ist. Dass man in den Stadtpark gehen kann und dort Boule spielen darf. Dass es am Bahnhof nicht von Räubern wimmelt. Und dass Winterthur die Leute eigentlich mag, die hier wohnen.

Wie Winterthur zu seinen Bieren Kam
Wie Winterthur zu seinen Bieren Kam
Hintergrund

Haldengut war lange das einzige Winterthurer Bier – heute wird in der Stadt eine Fülle an Craft-Bieren gebraut. Das ist unter anderem einem Getränkeladen an der Steinberggasse und lokalen…

Ein Stück Alltag in der neuen Heimat
Ein Stück Alltag in der neuen Heimat
Hintergrund

Deutschintensiv-Kurse, Tandempartner*innen, Integrationsbegleitungen, Sprachtreffs: Wo staatliche Massnahmen zur Integration und Möglichkeiten für Menschen mit Fluchterfahrung fehlen, springen…

Licht und Schatten der 80er-Jahre
Licht und Schatten der 80er-Jahre
Hintergrund

Die Winterthurer Ereignisse haben Spuren in den Leben der Beteiligten von damals hinterlassen und prägen diese teils bis heute. Auch die Stadt Winterthur begann sich zu verändern, durch äussere…

Das Erschaffen einer gemeinsamen Realität
Das Erschaffen einer gemeinsamen Realität
Hintergrund

«Reality Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» heisst die aktuelle Ausstellung im Museum Schaffen. Das auf Arbeitsgeschichte ausgerichtete Museum am Lagerplatz thematisiert darin die Verflechtung…