Vinyl oder Plastik?

Biegsam und aus Plastik ist der Tonträger, den ein zufällig zusammengewürfeltes Band-Kollektiv am 20. April im Kraftfeld tauft. Eine Reportage über die zweite Flexi Recording Session.

Die Idee klingt einfach, die Marc Bouffé im schummrigen Licht einer verrauchten kleinen Kellerbar einer Handvoll Winterthurer Musiker*innen vorstellt. Verschiedene Bands, so Marc Bouffé – selber Musiker und Studioinhaber – sollen im Zuge eines Experiments auseinander gepflückt und neu zusammengesetzt werden. Jede dieser neu entstandenen Formationen erhält anschliessend zwei Stunden Studiozeit, um einen dreiminütigen Song aufzunehmen, der dann im Rahmen des Record Store Days auf einer Flexi-Disc veröffentlicht wird. Keine schlechte Idee, meint jemand aus der Runde: «Eine Flexi-Disc aus biegbarem Plastik am internationalen Feiertag des Vinyls veröffentlichen? Irgendwie ist das Trash, irgendwie Fuck You. Das ist Liebe! Das passt zu Winti!» Nachdenkliches Nicken und innere Begeisterung ein paar angetrunkener Leute an einem frühen Sonntagmorgen irgendwo in Winterthur. Eine letzte Runde Bier und Quittenschnaps besiegelt das Vorhaben und während hinter der Bar die Aschenbecher geleert werden, legt sich eine fein aufstäubende Aschewolke über den Tresen, wo husch die Getränke mit ungeschickt hervorschnellenden Handflächen bedeckt werden.

 

«Drop That Needle Down»

«Die erste Ausgabe unserer Flexi Recording Session hat unglaublich viel Spass gemacht und unter dem Namen ‹Drop That Needle Down› vier wirklich gute Songs hervorgebracht», erinnert sich Marc Bouffé heute beim Gespräch in seinem Wohnzimmer. Obwohl damals noch mit organisatorischen Schwierigkeiten gehadert wurde, stellten sich fünf Winterthurer Bands hinter das Vorhaben: Lyvten, The Peacocks, The Royal Hangmen, Rue des Cascades und Soldat Hans bildeten im Winter 2016 vier neue Band-Konstellationen und schrieben je einen Song, den sie Anfang 2017 bei David Langhard in den DALA Studios in jeweils zweistündigen Aufnahmesessions live einspielten. Die dabei entstandenen Stücke wurden anschliessend von den Winterthurer Produzenten Philip Harrison und Robert Grimmer gemischt und gemastert. «Es war uns wichtig, dass wir mit diesem Projekt möglichst viele Leute zusammenbringen, die vorher künstlerisch nur begrenzt miteinander zu tun hatten», erklärt Marc Bouffé und bemerkt: «Das Zusammenspiel hat erstaunlich gut geklappt. Die Bands und Produzenten haben sich auf einander eingelassen und innerhalb kürzester Zeit funktionierende und vor allem hörenswerte Songs vorgelegt. Für das Artwork der Flexi-Disc konnten wir den Illustrator Balthasar ‹Balz› Bosshard gewinnen und mit Sebastian Herzog und Michael Sauerland vom Label Flexi Disko fanden wir einen passenden Partner, der die Veröffentlichung unseres Tonträgers übernahm. Kurz gesagt: Irgendwie hat alles gepasst und es wurde klar, dass dies nicht eine einmalige Sache bleiben sollte!» 

 

«Hybrid Beast»

Hatte Marc Bouffé bei der ersten Flexi Recording Session die Organisation des Projekts noch alleine übernommen, erhielt er für die diesjährige Ausgabe Unterstützung von Christian Poffet, Matthias Menzi, Omar Hetata und Thorsten Polomski. Letztere drei waren bei der ersten Session bereits als Bandmusiker dabei und brachten ihre Erfahrungen bei der Planung entsprechend ein. «Am Konzept haben wir nicht viel geändert», sagt Matthias Menzi. Erneut wurden fünf Bands angefragt, die zusammen vier neue Formationen bildeten und innert zwei Stunden einen dreiminütigen Song einspielen sollten. «Einzig den Zeitrahmen des Projekts haben wir enger gesteckt: Die Bandaufteilung, Songs und Aufnahmen entstanden dieses Mal innerhalb eines einzigen Wochenendes.» Der Gedanke, dass es schwierig oder gar unmöglich sein kann, unter derartigem Zeitdruck kreativ zu wirken, mag im ersten Moment abschrecken. Dennoch nahmen die Organisatoren und die Bands dieses Risiko in Kauf und trafen sich an einem Freitagabend im Dezember 2018 im Bandraum «Astoria» zum Auftakt eines langen gemeinsamen Wochenendes.

 

Ein Tag – vier Songs

«Wir haben uns für dieses Projekt Bands ausgesucht, die uns gefallen und die sich den Spielarten der rockigen Gitarrenmusik verschrieben haben», erklärt Christian Poffet, Mitorganisator der Flexi Recording Session. Mit Forlet Sires, Obacht Obacht, Useless, Verwaltzen und Viaticum reichte das Spektrum der entsprechenden Musikstile von Black Metal über Garage-, Noise- und Psychedelic-Rock bis hin zu Grunge und Doom. Die Herausforderung, diese Strömungen im Zusammenspiel mit «fremden» Musiker*innen zu versöhnen, sollte für die Bands durch die neu arrangierten Konstellationen in nur einem Tag zu meistern sein. Darüber machten sich nicht nur die Organisatoren im Vorfeld Gedanken: «Ich habe mich durchaus gefragt, ob es möglich ist, sich in so kurzer Zeit mit anderen Leuten musikalisch zu finden», äussert Sarah Rutschmann, Bassistin bei Useless, ihre Bedenken. Sie betont aber auch: «Meine Lust und Neugierde waren stärker. Ich habe mich darauf gefreut, andere Arbeitsformen und Stilrichtungen zu erkunden. Und da die Winterhurer Musikszene untereinander freundschaftlich vernetzt ist, waren wir uns alle ja nicht wirklich fremd.»

 

Vier Songs – One Love

 «Wer gerne Gitarrenmusik hört, kommt um die Szene in Winterthur nicht herum», bemerkt Tobias Rüetschi, dessen Band Obacht Obacht als einzige von ausserhalb stammt. «Obwohl wir in Winterthur proben, haben wir uns natürlich sehr gefreut, als Frauenfelder Band zu diesem Projekt eingeladen zu werden. Wir teilen alle die gleiche Leidenschaft und das hat man in den neu zusammengewürfelten Formationen auch gemerkt.» Tatsächlich ist es dieser unkomplizierte Wille zur Kooperation, diese Lust am Neuen und eine grosse Experimentierfreude, die das musikalische Schaffen in dieser Stadt prägen. Ein Eindruck, der sich auch im Gespräch mit einzelnen Musiker*innen bestätigt: «Ich finde es wichtig, dass unsere Bands dieses Gefühl des Zusammengehörens zelebrieren», bemerkt Pascal «The Wizard» Gilgen, Gitarrist und Sänger der Winterthurer Psychedelic-Doom-Clique Viaticum. «Wir haben hier eine äusserst spannende Underground-Szene, die Genregrenzen spielend überwindet, junge und alte Bands zusammenbringt und mit viel Herzblut demonstriert, worum es uns allen geht: um den Sound!»

 

«The Beast»

Um diesen Sound adäquat einzufangen, übernahm Yvo Petrzilek, Sänger bei Verwaltzen, Recording-Engineer und Produzent, die Aufgabe, die vier frisch entstandenen Bands – Betty, Fuzz Berg, Inglorious Radio und Nekrofog – an einem Tag in jeweils zweistündigen Live-Sessions aufzunehmen. «Die Zusammenarbeit mit den Bands war angenehm entspannt. Sie waren spielfreudig und sehr gut vorbereitet. Die Aufnahme war ein richtiges Vergnügen», sagt Yvo Petrzilek, der in Kollbrunn die Verwaltzen Studios betreibt. Er betont: «Wir haben eine stimmige kleine Platte hinbekommen!» Dies spiegelt auch die Aufmachung der Flexi-Disc selber wider, für deren Artwork dieses Jahr der Winterthurer Tattoo-Künstler Thorsten Polomski verantwortlich war. Angelehnt an die Bildsprache der späten 1980er-Punk- und Hardcore-Szene hat er ein passendes Biest für das Cover entworfen. «Die Schwierigkeit lag darin, ein treffendes Sujet zu finden, ohne dabei zu wissen, welche Art von Musik die neu entstandenen Bands machen würden», gibt sich Polomski bedeckt und sagt lachend: «So hart, wie die Songs geworden sind, scheint es aber recht gut zu passen. Wir freuen uns auf die Release-Party, die eine Woche nach dem Record Store Day stattfinden wird. Spätestens im Kraftfeld wird sich das Biest dann zeigen!»

 

 

Hybrid Beast – Flexi Recording Session 2019

Mit Konzerten von:

Forlet Sires, Obacht Obacht, Useless, Verwaltzen, Betty, Fuzz Berg, Inglorious Radio und Nekrofog

 

 

Samstag, 20. April, 21 Uhr

Eintritt CHF 20

Kraftfeld Winterthur

Lagerplatz 18

8400 Winterthur

www.kraftfeld.ch

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