Kunst im Stadtraum

Während immer Galerien und Messen Urban Art einkaufen, holen Anita Bättig und Merly Knörle mit dem Urban Art Festival die Kunst zurück auf die Strasse. Das Festival findet vom 11. bis zum 14 September auf dem Sulzerareal statt.

Telefonzellen werden zu Duschkabinen und ein Fotoautomat verwandelt sich in eine Toilette: Jenseits von Graffiti erobern Street-Art-Künstler in den Grossstädten den öffentlichen Raum. So zum Beispiel das Berliner Trio Mentalgassi. «Uns war aufgefallen, dass man in einer Stadt wie Berlin wahnsinnig viel Zeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln verbringt und dass sich einige dort so benehmen, als wäre es ihr Wohnzimmer», erklärt G, eines der Mitglieder des Strassenkollektivs, in einem Interview in der Berliner Zeitung zu ihrem Projekt «Public Intimacy». Diesen Umstand wollten die drei Künstler, die sich mit 16 Jahren in der Graffitiszene kennengelernt hatten, vorführen und verwandelten einen U-Bahn-Waggon kurzerhand in ein Wohnzimmer mit einem Sofa, Gardinen an den Fenstern und einem kleinen Teppich.  Auch die Dusche und die Toilette waren eine der Installationen von «Public Intimacy». Innert weniger Minuten waren die Kunstwerke von den Behörden oder Passanten zerstört.

 

«Ein Augenzwinkern»

«Urbanes Entertainment», nennen Mentalgassi ihre Aktionen. «Es gibt viele Orte in der Stadt, die rein funktionell sind und von den Menschen auch so behandelt werden. Wie die meisten anderen Strassenkünstler stellen wir die Frage, ob das denn so sein muss. Wir möchten einen kleinen Moment der Freude reinbringen, ein Augenzwinkern.» Bekannt geworden ist das Berliner Künstlerkollektiv durch seinen Einsatz von Porträtfotografie. Sie bekleben Glascontainer mit grossformatigen Bildern von Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern. Fotografie sei eine ehrliche Ausdrucksform und erlaube es, subtil Botschaften zu vermitteln. «Ein Gesichtsausdruck an der richtigen Stelle bewirkt oft viel mehr, als wenn man versuchen würde, alles grafisch darzustellen oder mit einer Message aufzuladen.»

Mittlerweile sind die Werke von Mentalgassi in Ausstellungen zu sehen. Auch Auftragsarbeiten nehmen sie an. Für Amnesty International beklebten sie in London 2010 Zäune mit Bildern von Gefangenen. Die Gitter des Zauns erinnern an Gitterstäbe, gleichzeitig sind die Bilder nur aus einer bestimmten Perspektive zu sehen. Wer direkt davor steht, sieht nur den Zaun. «Making the invisible visible», hiess ihr Projekt. Street Art in Ausstellungen oder als Auftragsarbeit? Funktioniert das noch oder verkommt die Kunst zum rein dekorativen Element? Eine Frage, für die sich auch Anita Bättig und Merly Knörle von der Galerie «knoerle & baettig contemporary fine art» interessieren. Zusammen mit der Kunsthistorikerin und -kritikerin Lucia A. Cavegn haben sie im Rahmen des 750-Jahr-Jubiläums der Stadt Winterthur ein Urban Art Festival konzipiert, das nun vom 11. bis 14. September auf dem Sulzerareal stattfinden wird. «Urban Art ist Kunst im urbanen Raum. Das können Installationen, Videoprojektionen oder Bilder an der Fassade sein», erklärt Bättig. Urban Art bezeichnet einerseits die urban geprägte Ausstellungskunst, andererseits dient der Begriff aber auch als Oberbegriff für Street Art und Graffiti, die beide illegal und unkoordinierter stattfinden.

Insgesamt 14 nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler stellen auf dem Gelände des Werk 1 aus, das in zwei Jahren abgerissen werden soll. Darunter sind Mentalgassi. Robert Proch, ein junger Maler und Muralist aus Polen. Tika, eien bekannte Schweizer Muralistin. Das Berliner Künstler-Kollektiv Quintessenz Creation. Die beiden in Leipzig lebenden Graffiti-Künstler Royel TS  und Bond, der vor allem kalligrafisch, also mit Schriftzeichen arbeitet. Die Berliner Künstler Thomas Bratzke und Markus Butkereit. Und die Winterthurer Kunstschaffende Pascal Kohtz, Sabina Gnädinger und David Kümin, der unter dem Künstlernamen Chromeo bekannt ist.

 

Zweckentfremdung des Stadtmobiliars

«Wir wollen mit dem Festival viele Facetten zeigen der Urban Art zeigen. Dafür haben wir gezielt Künstler gesucht, die etwas spezielles machen», sagt Bättig. Spannend sei zum Beispiel das Projekt, das der US-Künstler Brad Downey angekündigt hat. «Er sucht Objekte in der Stadt und fotografiert sie vor einem Hintergrund. Er nimmt den Gegenstand mit und setzt ihn in eine neue Situation ein und macht wieder ein Foto. Das gibt dann eine Art Kette durch die ganze Stadt. Die Bilder stellt er im Festivalzentrum aus», sagt Bättig. Hinter seinen spontanen Interventionen im öffentlichen Raum steht die Idee der Zweckentfremdung und damit eine Neudefinition des Stadtmobiliars. «Je nachdem wird er auch versuchen, die Bevölkerung miteinzubeziehen.»

Die Kunstausstellung ist das Herzstück des Festivals. Aber da sich Urban Art nicht nur auf eine Kunst beschränkt, sondern auch Musik und Break-Dance umfasst, haben die Kuratorinnen den Rahmen des Festivals ausgeweitet und den Verein für urbane Kultur in Winterthur sowie den Verein Rap im Stadtpark miteinbezogen. Die beiden Vereine veranstalten am Samstag, 13. September eine «Graffiti Action» und einen Hip-Hop Jam. An einer 150 Meter langen Wand aus Bauwänden werden über 20 Writers aus der lokalen Graffitiszene malen. Dazu gibt es Sound von lokalen Musikacts. Ausserdem gibt es auch diverse Work-Shops.

Es wird nichts verschandelt

 «Mit dem Festival soll ein Publikum erreicht werden, dem diese Art von Kunst unbekannt ist. Es soll zeigen, dass diese Künstler und Sprayer etwas können und etwas ernsthaft machen und nichts verschandeln.», sagt Bättig und spricht damit das Problem Vandalismus an: Urban Art sei nicht mit Vandalismus gleichzusetzen. «Sie schafft Freiräume für Jugendliche. Doch diese müssen irgendwo üben können. In den Städten fehlen die Orte dazu.» Für das Festival können Bättig und Knörle das Glück, das Areal des Werk 1 nutzen. Die Werke können für zwei bis drei Jahre stehen bleiben, bevor das Areal einer Überbauung weichen muss. «Wenn es mehr kontrollierte und freigegebene Flächen gäbe,  dann wäre die Stadt nicht nur schöner, die Leute müssten auch nicht nachts sprayen gehen. Dann wäre auch Illegalität nicht mehr so gross», sagt Bättig. Am Festival soll deshalb auch in sogenannten Panels Themen wie Faszination versus Ablehnung von Urban Art wie auch das Zusammenspiel von Anonymität und Öffentlichkeit diskutiert werden. Dass zum Beispiel auch bei renommierten Künstlern die Illegalität nach wie vor ihren Reiz haben kann, zeigt sich beim in Berlin lebenden Künstler The Wa. «Bei ihm wissen wir nicht, wer er ist. Er unterschreibt seine Mails nur mit G», sagt Bättig. «Auch andere machen hin und wieder illegale Sachen, aber man kennt sie.» So sorgt das Künstlertrio Mentalgassi zum Beispiel am Rande der Illegalität für Unterhaltung auf den Berliner Strassen. Die Möglichkeiten der Ausdrucksformen in der Strassenkunst scheinen dabei unbegrenzt zu sein. Mentalgassi warnen aber davor, die Bedeutung von Street Art überzubewerten. Es werde der Strassenkunst viel angedichtet, was in dieser Bewegung gar nicht vorhanden sei. «Street Art ist die Aufgabe von vielen einzelnen, die versuchen, das Gesicht des öffentlichen Raumes menschlich zu halten.»

 

Urban Art Festival

Eröffnungsanlass, Donnerstag, 11. September, 19 bis 22 Uhr

11. bis 14 September

urbanartfestival.ch

Workshop Calligrafitti

Kalligrafie ist die Kunst des Schönschreibens und wird immer mehr bei Graffiti angewendet. Eine Einfürhung in die neue Kunst.

Samstag, 13. September, 10 bis 17 Uhr, Eintritt: CHF 100/Person

 

Workshop Breakdance

Breakdance entstand anfangs der 1970er-Jahre als Teil der Hip-Hop-Kultur in New

 York. Eine Einführung in Steps du Moves.

Freitag, 12. September, 18 bis 21 Uhr, Festivalzentrum, Eintritt CHF 20/Person

 

Workshop 3D-Street Art

Mit Kreide werden faszinierende 3D-Illusionen auf die Strasse gemalt. Für die ganze Familie.

Sonntag, 12 bis 16 Uhr, Eintritt frei, CHF 20 für Material

 

Platzzahl beschränkt. Anmeldung unter info@urbanartfestival.ch

 

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