An einem Sonntagabend um 22 Uhr in Winterthur: Der 25-jährige Jason macht sich bereit für seine Tour durch die Müllcontainer der Stadt. Mit Taschenlampe und leeren Einkaufstaschen bestückt, schreitet er in die Nacht, in der Hoffnung, ein Schlaraffenland auf der Müllhalde zu finden. Auf dem Hinterhof eines Supermarktes öffnet er mit schnellen, gekonnten Griffen die Tonnen und durchsucht die Abfallsäcke. Ein etwas strenger Duft steigt in die Nase. Was steht heute auf der Speisekarte? Der Abfall entscheidet – und das Menu ist vielfältig. «Rhabarber, Spargel, Milch, Erdbeeren, Tofu, Broccoli, Kuchen, Brot, Bananen... Ich finde alles mögliche in den Containern, und das in gigantischen Mengen», erklärt Jason, der regelmässig in Müllcontainern von Supermärkten nach Esswaren taucht. Die Lebensmittel, die er dabei findet, sind oft unversehrt und noch geniessbar. Was er im Schutze der Nacht tut, nennt sich Containern. 251'000 Tonnen Nahrungsmittel landeten im Jahr 2012 in der Schweiz im Abfall. Dies teilte das Bundesamt für Umwelt mit, nachdem sie die Anteile der Nahrungsmittel im Hauskehricht untersuchten. Gleichzeitig leben 842 Millionen unterernährte Menschen auf der Welt, so die Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Das sind etwa 105-mal so viele Menschen wie in der Schweiz leben.
«Wenn man Dinge genau betrachtet, sind sie oft absurd», bemerkt Jason, während er einen Topf mit einer Bio-Schnittlauchpflanze aus der Tonne zieht. Während seinen nächtlichen Streifzügen fing er an, über das System der Supermärkte und das Konsumverhalten nachzudenken. Die Leute wollen nur frische und makellose Ware. Sei zum Beispiel eine Frucht in einem Beutel mit Orangen faul, werde der ganze Sack weggeschmissen und einfach mit einem Neuen ersetzt.
Jason beisst in einen Apfel. Was, wenn ihn jemand beobachtet? «Dann komme ich hoffentlich auf irgendeine Titelseite mit der Schlagzeile: Typ isst Abfall.» In der Schweiz ist das Durchsuchen von Abfall nach Essbarem legal, sofern man sich nicht gewaltsam Zutritt zu einem Gelände verschafft oder über Zäune klettert. Er geniesst es, nachts unterwegs zu sein. Mit dem gesparten Geld stillt er sein Fernweh und verreist regelmässig.
Ein Kühlschrank für die ganze Stadt
Auch der Gruppe RestEssBar sind die riesigen Mengen an essbarem Abfall aufgefallen. Sie möchten diese Lebensmittelverschwendung bekämpfen. Hinter der RestEssBar stehen fünf Menschen mit einer Vision: Essen soll nicht weggeschmissen, sondern verwertet werden. Die Gruppe möchte nicht nur über die Problematik diskutieren, sondern aktiv etwas bewirken. Deshalb haben sie in der Winterthurer Altstadt, im Innenhof von «Hasan Sandwich», einen Kühlschrank aufgestellt. «Diesen füllen wir mit Lebensmitteln, die in Supermärkten nicht mehr verkauft werden können», erklärt die Mitgründerin Sarah Weibel. «Jeder darf sich bedienen.» Fast jeder – denn man benötigt einen Code. Damit etwa Nachtschwärmer ihre Kebabreste nicht darin zurücklassen oder andere Dummheiten anstellen, ist der Kühlschrank mit einem Schloss gesichert. Wer nicht wie Jason im Abfall wühlen möchte, kann den Code bei der RestEssBar anfordern. «Wir möchten mehrmals wöchentlich eine Tour von Laden zu Laden machen, um dort die Essensreste abzuholen», erzählt Flo Sprenger, der zum engen Kreis der Gruppe gehört. Ende April wurde der Kühlschrank an den Strom angeschlossen. Zu Beginn werden sie sich auf das Anbieten von Lebensmittel ohne Ablaufdatum wie Gemüse, Brot und Früchte beschränken. «Denn sobald ein Ablaufdatum auf den Lebensmitteln steht und diese nicht mehr gut sind, haften wir», erklärt Seraina Fritzsche von der RestEssBar.
Gemeinsames Gärtnern in der Stadt
Wer lieber selbst Hand anlegen möchte, ist beim Gemeinschaftsgarten Büel genau richtig. Dieses junge Projekt wurde vom Verein «gartenstadtgärten» lanciert. Laut Eva Bührer, Mitglied bei «gartenstadtgärten» und eine der GründerInnen des Gemeinschaftsgartens, liegt der Ursprung des Vereins aber bei der Ölproblematik. Die Mitglieder stellten sich die Frage, wie die Zukunft ohne Erdöl aussieht. Das Gemüse im Supermarkt von Marokko und Spanien ist ohne Öl nicht mehr transportierbar. So entstand nach und nach die Idee des Gemeinschaftsgartens. Wie ein Kopfsalat entsteht, wissen heute viele Menschen nicht mehr. Dem möchte das Team um Bührer entgegenwirken und eine partielle Selbstversorgung fördern. Der Gemeinschaftsgarten ist neben der Winterthurer Stadtgärtnerei platziert. Mitmachen darf jeder und die Interessenten sind zahlreich. Jeweils am Mittwochnachmittag treffen sich die Hobby-Gärtnerinnen und -Gärtner und pflegen das Gemüse. Seit bereits zwei Jahren existiert das Projekt. Der Anfang war hart, da kein Platz gefunden werden konnte. «Es gab einen geeigneten, doch auf diesem wurde ein Pavillon gebaut», erzählt Bührer. Die «Quartierentwicklung» der Stadt Winterthur sowie auch die «Stadtgärtnerei Winterthur» waren beide sehr angetan von dem Projekt. Mit deren Hilfe war die Suche schliesslich erfolgreich. Das gezogene Gemüse wird gerecht unter den Beteiligten aufgeteilt. Beim Gärtnern werden in erster Linie «Pro Specie Rara»-Samen verwendet. «Pro Specie Rara» züchtet unbekannte und seltene Gemüsesorten, die es bei Coop oder Migros nicht gibt. Diese Samen können auch selber vermehrt werden, was bei den konventionellen nicht der Fall ist. Im Garten wird allerlei Gemüse angepflanzt, neu sind auch Obstbäume und Wildsträucher dabei. Die Zukunft des Gemeinschaftsgartens sieht gut aus. Der Wunsch nach gesundem Essen und Gemeinschaftsförderung kommt gut an in Winterthur. Durch das Selbstanbauen schätzen die Gärtnerinnen und Gärtner ihr Gemüse auch mehr und verschwenden weniger Lebensmittel. Aufgrund des regen Interesses ist ein weiterer Garten in Winterthur Grüze geplant.
Und die Zukunft
Doch nicht nur die Lebensmittelverschwendung ist ein Problem. Laut dem Bundesamt für Umwelt machen die Produktion, die Reise sowie die Bereitstellung des Essens im Laden etwa 30 Prozent der Umweltbelastung durch Konsum in der Schweiz aus. Hierbei wurden die im Ausland durch die Produktion entstandenen Schäden berechnet. Insbesondere die Fleischproduktion sowie Flugtransporte bei schnell verderblichen Nahrungsmitteln machen einen grossen Teil der Gesamtbelastung aus.
Durch Reduktion könnte aus ökologischer Sicht sehr viel gewonnen werden. Weniger Lebensmittel, welche weggeworfen werden, bedeutet auch weniger umsonst verschwendete Energie. Lokale Produktion hat im Vergleich zur internationalen diverse Vorteile. Selbst wenn das Essen aus der Schweiz, anders als beispielsweise im Gemeinschaftsgarten Büel, nicht Bio ist, weist es eine bessere Ökobilanz auf.
Nicht nur in Winterthur existieren Projekte für eine alternative Essensproduktion. In der krisengeplagten amerikanischen Stadt Detroit spriessen Gemeinschaftsgärten nur so aus dem Boden. In Österreich steigt das Interesse nach regionalen Produkten, wie eine Studie der Beratungsfirma ATKearney ergab. Die Beweggründe der Konsumenten sind Nachhaltigkeit, Frische und Qualität. Und bei Jason, der RestEssBar und dem Gemeinschaftsgarten Büel verhält es sich ähnlich: Es sind Projekte, bei denen es nur vordergründig um das Essen geht. Es steckt mehr dahinter. Es sind Ideen für die Zukunft, wenn die Nachhaltigkeit mehr als ein leeres Wort bedeuten wird. Denn nicht nur beim Essen gilt: Probieren kann nicht schaden.
weitere Informationen
www.restessbar.ch
www.gartenstadtgaerten.ch