Chemnitz bringt Menschen in Bewegung

Unter dem Motto #wirsindmehr nahmen am 3. September in Chemnitz 65’000 Menschen am Konzert gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt teil. In Zürich folgten 1'500 Menschen der Einladung der Juso zu einem Soli-Konzert-Abend.

Passiert das gerade wirklich? Die Frage dürfte sich so manche in den letzten Tagen gestellt haben, wenn sie die Bilder des AFD-Trauermarsches und die nachfolgenden Demonstrationen und Proteste gesehen haben. Es passiert. Aber aus welchen Gründen? Welche Motivation steckt dahinter? Und woher kommt der Unmut, den die Menschen auf die Strasse bewegt, wofür die fremdenfeindlichen und rassistischen Äusserungen Ausdruck?  Fragen, die eine Analyse der Situation bedürfen, die keine einzelne Journalistin oder Journalist in wenigen Tagen leisten kann, auch keine Zeitung, Radio oder Fernsehen.

Worüber sich aber berichten lässt, ist die Tatsache, dass die Ereignisse in Chemnitz Menschen in Bewegung bringt. Unter dem Motto #wirsindmehr riefen die Band Kraftklub und das Bündnis Chemnitz Nazifrei zu einem Konzert-Abend auf. 65'000 Menschen nahmen bei dem Anlass gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt teil. Der Konzert-Abend war eine Reaktion gegen die Partei Afd, die Pegida und die Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die nach einem tödlichen Messerangriff auf einem 35-Jährigen am 1. September einen «Trauermarsch» organisierten und das Tödungsdelikt sowie ein eigentlich politisches und religiöses Ritual für ihre rechtspopulistischen Anliegen missbrauchten.

Olivia Staub war am Montagabend als Reporterin für Radio Stadtfilter vor Ort. Ihren Beitrag gibt es hier zu hören:

Eine Bild- und Text-Reportage vom Winterthur Fotografen Milad Ahamdvand ist auf dem Blog lovewinti.ch zu lesen.

 

Die Ereignisse beschäftigen aber auch die Menschen in der Schweiz. Zeitgleich mit den Konzerten in Chemnitz fand in Zürich auf dem Bürkliplatz ein Konzertabend unter dem Motto «Solidarität heisst Widerstand, Kampf dem Faschismus in jedem Land» statt. Der Anlass wurde innert wenigen Tagen von der JUSO Schweiz organisiert, in einer Rede erinnerte Juso-Präsidentin Tamara Funiciello daran, das nicht vergessen werden dürfe, was vor mehr als 70 Jahren in Europa geschehen sei. «Die Verantwortung, gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus einzustehen liegt bei uns allen», mahnte sie und forderte die Anwesenden auf, nicht nur an einem Abend dafür einzustehen, sondern sich zu engagieren.

 

Bis zu 1'500 Menschen waren am Montagabend dem Aufruf der Juso gefolgt. Wie in Chemnitz begann auch der Abend mit einer Schweigeminute. Nach der Rede von Tamara Funiciello spielten bis 21:30 Uhr unter dem Dach des Pavillons Boni von Baby Jail, Sooma, Mezu, Hathors und OMGH. Viele tanzten zur Musik, beim Lied «Bella Ciao», das Mezu anstimmten, stimmten nahezu alle Anwesenden mit ein. Ein fröhliches Miteinander, bei dem es keine Rolle spielt, woher jemand kommt oder wen jemand liebt. ein. «Bella Ciao», das diesen Sommer übrigens durch das Remixes eines französischen Produzenten in Frankreich, Deutschland und Belgien zum Sommerhit avancierte, begleitete im zweiten Weltkrieg italienische Partisanen in den Kampf gegen Hitler und Mussolini und gilt als Hymne der antifaschistischen Bewegung. Das Lied aus der Widerstandsbewegung stand am Montagabend denn auch symbolisch für das, was die Anwesenden motivierte, sich auf dem Bürkliplatz zu versammeln: Zusammen ein Zeichen gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu setzen.

 

Auch die fünf Bands traten auf, um ein Zeichen zu setzen: «Für uns als Band ist es selbstverständlich, einen Beitrag gegen Rassismus zu leisten», sagte beispielsweise Sänger und Gitarrist Marc Bouffé von der Winterthurer Band Hathors. «Wir sind Teil der Gesellschaft. Gerade als Band oder auch als Organisation sei es deshalb wichtig, öffentlich Haltung zu beziehen.» Es spiele keine Rolle, woher jemand komme, denn für ihn sei klar: «Alle Menschen sind willkommen.»

 

Doch verändert ein Konzertabend die Welt? «Ich denke, der Soli-Abend in Zürich bewirkt mehr, als wenn wir in der Schweiz gar nichts machen», sagt Marc Bouffé und betont: «Wenn wir nichts machen, dann lassen wir Rassismus und Antifaschismus zu, dann scheint es so, als ob wir solche Äusserungen und solches Handeln tolerieren.» Er habe oft das Gefühl, dass die Menschen in der Schweiz zu bequem seien, Haltung zu beziehen – nur schon im kleinen Rahmen, in Gesprächen mit Bekannten. «Wenn jemand sich rassistisch äussert, dann sollte man sagen, dass man das Scheisse findet, das man mit dieser Aussage nicht einverstanden ist.» Allerdings beobachte er auch oft, dass viele ihr Gegenüber bei rassistischen Sprüchen und Kommentaren gewähren lassen, nur wenige sagen Stopp. Eine Beobachtung, die auch andere der am Montagabend Anwesenden gemacht haben. Sind es Unsicherheit und Angst, dass die eignen Argumente gegenüber jemandem, der sich rassistisch oder auch sexistisch gegenüber anderen Menschen äussert, nicht standhalten? Ist es die Bequemlichkeit, Haltung zu beziehen? Oder fehlt das Wissen, dass die Würde eines Menschen unantastbar ist und wer etwas dagegen sagt, gegen die Menschenrechte verstösst? Fragen, die sich jede und jeder mal wieder selbst stellen sollte.

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