Russland: Das Land der Eisfischer. Das Land mit dem zugefrorenen Baikalsee. Das Land mit dem kältesten Ort der Welt. Bis zu minus 60 Grad Celsius kann es dort im Winter werden. Und dann gibt es noch Sotschi. Eine Stadt, die anders ist als alle anderen in Russland. Eine Stadt mit Palmen. Sotschi liegt am Schwarzen Meer und vor der Küste schwimmen Delfine. Das Thermometer sinkt hier im Verlauf eines ganzen Jahres selten unter null Grad. Im Februar ist es durchschnittlich 6 Grad warm. Ausgerechnet an diesem Ort sollen nun Olympische Winterspiele durchgeführt werden. Hier, wo die Russen in die Badeferien fahren.
Stalin verwandelte in den Dreissigerjahren die damals kleine Stadt Sotschi zu einem nationalen Kurort. Hier sollte sich die Arbeiterklasse am Meer und in Sanatorien erholen können von der harten Arbeit in den Fabriken und Werkbänken der Sowjetunion. Die Sanatorien stehen noch heute und noch immer werden Behandlungen wie zu Sowjetzeiten angeboten. Auch Ende November kann man hier noch immer draussen neben Palmen im kurzen T-Shirt zu Abend essen. Seit dem Kollaps vor 20 Jahren und den Massenschliessungen der staatlichen Betriebe hat die Zahl der Besucher allerdings massiv abgenommen. Wer es sich in Russland leisten kann fährt heute nach Italien, Zypern oder Malta. Hamlet Watjan, der Leiter des Sanatoriums «Goldene Ähre» trauert um die Sowjetunion. Er klagt von den schlechten Arbeits-bedingungen, von der abnehmenden Touristenzahl und vom Lärm durch Olympia. «Nein, nach Olympia sind wir hier kein ruhiger Kurort mehr.» Doch bei einem Spaziergang durch das fast menschenleere Sanatorium und seinen Park wird klar: Die Zeit Sot-schis als Kurort ist schon vor Olympia abgelaufen. Doch statt den Kurort neu als zeitgemässe Sommer-destination zu etablieren, wird aus Sotschi grössen-wahnsinnig eine Winterdestination gemacht. Absolut irrational – wenn Olympia in Sotschi nicht durch einen Mann erklärt werden könnte: Wladimir Putin. Die Spiele sind sein ganz persönliches Selbstverwirklichungsprojekt. Nichts weniger, aber auch nichts mehr.
Sölden liegt in Russland
Bei der Vergabe durch das Internationale Olympische Komitee 2007 sagte Präsident Wladimir Putin: «Sotschi ist ein einzigartiger Ort. An der Küste können sie einen Frühlingstag geniessen, aber oben in den Bergen ist es Winter.» In der Tat ist das Kaukasusgebirge, das sich wenige Kilometer hinter Sotschi auftürmt einmalig. Es steht auf der UNESCO Liste des Weltnaturerbes und gehört zu den schützenwertesten Regionen Russlands. Während die Alpen Russlands mit Skiresorts übersäht sind, gab es im Kaukasusgebirge hinter Sotschi bis vor Olympia gerade einmal einen einzigen, veralteten Skilift aus Sowjetzeiten. Die gesamte Winterinfrastruktur musste innerhalb von weniger als fünf Jahren neu gebaut werden. Das bedeutet mehr als 200 neue Gebäude alleine für den Sport. Unter anderem Skilifte, eine Bobbahn, eine Skischanze, sechs Sportstadien – und gleich auch noch neue Kurorte inklusive Hotels. An Absurdität kaum zu übertreffen ist dabei die Autostrasse zwischen Sotschi am Meer und dem Austragungsort der alpinen Wettkämpfe in den Bergen: Pro Kilometer kostete diese 163 Millionen Franken. Damit ist sie die teuerste Strasse des Landes. Wohl-verstanden in einem Lande, in welchem in den grossen Städten Verkehrschaos herrscht und in kleinen Städten Strassen zu finden sind, die diese Bezeichnung nur sehr knapp verdient haben. Verkehrsexperten schätzen, dass die neue Strasse selbst während Olympia ihre volle Kapazität nicht ausschöpfen wird. Auch eine neue Zugverbindung wurde gebaut, mit der man von Sotschi das gebirgige Hinterland in weniger als einer halben Stunde erreicht.
Zug und Strasse sollen das Gebirge mit den neuen Kurorten am Meer verbinden. Einer der neuen Kurorte nennt sich «Rosa Khutor». «Bin ich hier noch in Russland?», fragt man sich bei der Ankunft im ersten Moment. Mit seinen steinernen, der Architektur des 19. Jahrhundert angelehnten Hotels und Cafés sieht dieser Ort mehr aus wie ein Nachbau des österreichischen Skiressorts Sölden. Diese Imitation ist typisch für Russland: Man will erfolgreich sein und mit alpinen Skiresorts mithalten. Man imitiert statt auf Einzig-artigkeit zu setzen. Eigentlich hätten Sotschi und das gebirgige Hinterland ihr eigenes, reiches Kulturerbe. Die traurige Wahrheit ist allerdings, dass die ansässigen kaukasischen Völker im Zuge der Kolonialisierung durch Russland entweder umgebracht oder vertrieben wurden. Heute ist der Grund, auf dem Rosa Khutor erbaut wurde Privatgelände: Das Land des gesamten Kurortes gehört nicht etwas dem russischen Staat. Sondern dem Oligarchen Wladimir Potanin, ehemaliger Vizeministerpräsident und enger Freund Putins. Er hat den gesamten Kurort erbauen lassen.
In meinem Hotel ist per Zufall zur gleichen Zeit Bernhard Russi eingemietet. Er gehört zu den wenigen Schweizern, welche direkt in Sotschi involviert sind. Er frühstückt am Nebentisch. Bespricht sich mit seiner Assistentin und Geschäftsmännern über sein Projekt: Die Skipiste, die gleich neben dem Hotel mit dem Lift erreicht werden kann. Oder könnte, denn der Lift ist aus Sicherheitsgründen an diesem Morgen geschlossen. Wenige Wochen vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele ist noch nicht zugänglich, weil die Angst vor Terroristen zu gross ist. Noch vor Jahresende sind wenige hundert Kilometer nördlich von Sotschi bei zwei Bombenanschlägen in Wolgograd 34 Menschen ums Leben gekommen.
Schlagartig wird einem bewusst: Nein, das ist nicht in Sölden. Das ist der Kaukasus. Auf der anderen Seite der Berggipfel liegt Georgien. Der Krieg zwischen den beiden Ländern liegt noch keine sechs Jahre zurück. Politisch ist die Lage im Kaukasusgebiet verfahren und gleicht einer tickenden Zeitbombe. Offen-bar ist dies dennoch kein Grund einen anderen Austragungsort zu wählen, als ausgerechnet in der Nähe von Dagestan und Tschetschenien. Die ganze Region wird während den Spielen zu einer speziellen Sicherheitszone. In den Hängen des Kaukasus sind Abwehr-geschütze gegen terroristische Flugzeugangriffe gebaut worden – so auch gleich neben dem Biathlonstadion.
Wenig Grund zur Freude
«Die Athleten werden sich in Sotschi zu Hause fühlen», verkündete Putin vor dem Olympischen Komitee. Dieses «zu Hause» gleicht während einem Monat jedoch mehr einem Bunker als einem Ort des Sports. Zwischen dem Stadion der Eröffnungs- und Schluss-zeremonie, dem Herzstück von Olympia und der Grenze zu Abchasien liegen gerade einmal 15 Kilo-meter. Die Grenze wird während den gesamten Spielen geschlossen. Aus Angst, tschetschenische oder dagestanische Terroristen könnten über die Grenze nach Sotschi gelangen. Eine grosse Frustration für die Arbeiter aus Abchasien welche Sotschi mitgebaut haben – aber noch viel mehr für die Regierung von Abchasien, einem der ärmsten Länder des Kaukasus. Mit Olympia hat man grosse Hoffnungen auf einen Aufschwung verbunden, auf welchen seit dem Zerfall der Sowjet-union vergeblich gewartet wird. Die Hoffnungen der abchasischen Regierung sind nicht die einzigen, welche nicht erfüllt wurden: Profitiert haben von Olympia in erster Linie korrupte Geschäftsmänner und Leute, die im Tourismus zumindest während der Spiele eine neue Arbeit gefunden haben. Für die Mehrheit der Bevölkerung gibt es wenig Grund zur Freude.
«Es ist deine Olympiade!» steht auf einem Propagandabanner an der Universität für Sport im Zentrum Sotschis. «Meine Olympiade soll das sein?», fragt sich die 28-jährige Stadtbewohnerin Helene Magadeeva. «Nein, meine Olympiade ist das bestimmt nicht. Während den Spielen will ich nur eines: weg von hier!» Es ist nicht ihre Olympiade. Sondern seine. Vladimir Putins.