Einlassmusik klingt aus den Boxen. Dazwischen schwirrt unbeschwertes Kinderlachen durch den Raum. Man erwartet: Frühling, Glücklichsein, Familienfreude. Doch vor den Vorhang treten drei alte Frauen. Richtig alte. Die Frau Heisinger zum Beispiel. Oder die Frau Simplon. Die Frau Heisinger ist so alt, dass sie kaum noch sprechen kann. Nur noch grummeln kann sie. Und alle zwei Wochen kommt die Logopädin – «liebevoll grundsätzlich besorgt» – und dann wird «gemeinsam gegrummelt, was der Mund hält». In Frau Heisingers Bauch aber grummelt die Wut nicht nur, sie ist kurz vor dem Explodieren. Die Kinder, die Pfleger, alles. Auf das alles hat sie keinen Bock mehr. Keinen Bock mehr auf diesen schrumpeligen, faltigen, zu nichts mehr zu gebrauchenden Körper. Dieser Körper, in dem ein ganzes Leben steckt: Ein Kind, eine junge Frau, eine Mutter. Das Umfeld nimmt das aber nicht mehr wahr: Stattdessen erregt dieser Körper nur noch Mitleid, Sorge, manchmal Ekel und im Extremfall: Abscheu.
Es ist unter anderem dieser Gedanke, der Regisseurin Doris Strütt dazu bewogen hat, das Stück der jungen Zürcher Theaterautorin Katja Brunner auf die Bühne zu bringen. Oft werden alte Menschen vorschnell anhand ihres Äusseren etikettiert, meint die Regisseurin, auch sie selber sei davor nicht gefeit. Aber in diesem Körper stecke doch ein ganzes gelebtes Leben, so viele Erinnerungen, so viel Wissen! «Das Alter ist etwas, was uns alle betrifft; dieser körperliche Zerfall, der früher oder später eintrifft», so Doris Strütt weiter, «und irgendwann taucht bei jedem von uns die Frage auf, wann wir für die Gesellschaft noch ‹nützlich› sind und wie weit wir noch an dieser ‹Welt› teilhaben können.»
Dass die alten Menschen in Katja Brunners Stück nicht als Opfer, sondern als Menschen dargestellt werden, die den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen, hat Doris Strütt überzeugt. Eine Gruppe von Menschen, die allzu schnell an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, nachdem sie in der Mitte eben derer ausgedient haben. Katja Brunners Protagonistinnen und Protagonisten sind schonungslos und offen, wenn sie Tacheles reden. Der schwarze Humor, der sich durch das Stück zieht, kreiert eine Distanz zum Geschehen, und man kann – der ganzen Ernsthaftigkeit zum Trotz – auch darüber lachen. Nicht zuletzt, weil die Theaterautorin uns eine Fülle an Wortkreationen auftischt: Da wird dann aus einer Pflegefachkraft auch mal eine Pflegefachschwäche.
«Geister sind auch nur Menschen» wurde in den vergangenen Monaten verschiedenste Male im deutschsprachigen Raum inszeniert. Zwischen Kathetern und Schläuchen brachte Regisseurin Claudia Bauer im Theater Leipzig eine Altersorgie auf die Bühne mit grotesk kostümierten Frauenleibern, die auf der letzten Station vor dem Jenseits vor sich hinsiechen,. Heike M. Goetze hat am Luzerner Theater einen Gang runtergeschraubt und inszeniert ihre Version ohne grosses Aufsehen mit Laien in Feinripp mit Rollator, musikalisch untermalt von verzerrten Gitarrenklängen.
Wie geht Doris Strütt mit diesen Versionen um? Sie findet ihren eigenen Weg: Katja Brunner verzichtet grösstenteils auf eine eindeutige Zuordnung der Figuren, sodass dort ein grosser Spielraum entsteht. Das kommt der Regisseurin für ihre Inszenierung entgegen, denn damit werden die Charaktere durchlässig. So könnte auch das Publikum die «Alten» sein, die «Alten» das Publikum – und vielleicht vermischt sich die Realität der Zuschauenden ja mit der Realität auf der Bühne. Die Tänzerin und Choreografin Pina Bausch ist für Doris Strütt Vorbild: das Unaufgeregte in ihren Inszenierungen, vielleicht fast Zurückhaltende, das aber viel Gelegenheit für Eigeninterpretation bietet.
Zwar arbeitet Katja Brunner nicht mit klassischen Rollenzuteilungen. Das erleichtert vieles, doch dass das Stück in einer Dreier-Konstellation von den Schauspielerinnen Wanda Wylowa, Ursula Reiter und Doris Strütt aufgeführt werden kann, erforderte eine gewisse dramaturgische Vorarbeit. Auch wenn man bei Texten wie Brunners, die von Wortneuschöpfungen und Wortwitz strotzen, am liebsten gar nichts kürzen wollte.
Damit die Schauspielerinnen wandeln können, hat Jimena Cugat das Bühnenbild auf ein Minimum reduziert: So kann der Raum ganz in «Besitz» genommen werden. Der Sound von Erich Hufschmid dient dazu, die «Linearität zu durchbrechen» und unterstreicht oder kontrapunktiert im Zusammenspiel mit der Videoarbeit von Elvira Isenring die Spielorte und Atmosphären des Stückes. Die Kostüme von Claudia Binder, in denen die drei «Alten» schliesslich stecken, sind auch Auslöser für die Figuren, sich zu (ver-)wandeln: Ihre Kleider lassen sich drehen, und was vorher innen war, ist jetzt aussen
Die Schauspielerinnen mäandern zwischen Alter und Persönlichkeit, zwischen Tonfall und Text. Mal sind sie alleine, mal im Chor. Sie nehmen die Körperlichkeiten der «Alten» auf und legen sie wieder ab, kreieren endlose Momente, wie man sie als junger Mensch oft beobachtet, zwischen der Entscheidung, etwas zu tun und der tatsächlichen Ausführung, und während deren es einem fast zerreisst vor Ungeduld. Sie versuchen, sich vorzustellen, wie es sein könnte, wenn man mit all dem Erlebten noch einmal ein neues Leben beginnen könnte. Und wie es sein muss, wenn sie sich stattdessen von der Krankenpflegerin vorwurfsvoll anhören müssen: «Sie können doch die Wand nicht derart vollkoten, Frau Heisinger.»
«Geister sind auch nur Menschen» von Katja Brunner
mit Ursula Reiter, Doris Strütt und Wanda Wylowa
Premiere 2. Juni 20 Uhr, weitere Vorstellungen bis 17. Juni jeweils Samstag, Sonntag, um 17:30 Uhr und Mittwoch und Freitag um 20 Uhr
Eintritt: CHF 35/15
Kellertheater Winterthur
Marktgasse 53
www.kellertheater-winterthur.ch