Graffiti: Zwischen Kunst und Verbrechen

Graffiti prägen heute jedes westliche Stadtbild. Dennoch findet die grösste illegale Kunstbewegung keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Ein Blick auf die Winterthurer Szene.

Der Kampf gegen Ratten gehört so selbstverständlich zu den Aufgaben einer Stadtverwaltung wie der Kampf gegen Vandalismus. Schön, wenn sich beides auf einmal erledigen lässt, werden sich die Männer von der Stadtreinigung melbourne gedacht haben, als sie eine an die Wand gemalte Ratte mit grauer Farbe übermalten. Dass sie damit ein Kunstwerk vernichteten, war ihnen nicht klar – wie auch? Sie dürften nicht die einzigen sein, die den Street-Art-Künstler mit dem Pseudonym Banksy nicht kennen. Für dessen Arbieten werden auf dem Kunstwerk sechsstellige Beträge erzielt.

Graffiti und Street-Art – die Kunst der Sachbeschädigung – prägt heute jedes westliche Stadtbild. Hauswände und Mauern sind zu einem Medium der Kommunikation zwischen Menschen geworden. Philosophische Slogans, politische Statements, Graffiti und künstlerisch hochwertige Street-Art-Werke begegen uns auf Schritt und Tritt. Während Aktionen wie diejenige des Aktivisten aus der Zürcher Hausbesetzersene ide im Januar 2013 den Winterthurer Lagerplatt mit Sprayereien verschmiert haben, auf Unverständnis stossen, entlocken uns humorvolle Sprüche an den Toilettentüren ein Schmunzeln. Graffiti-Pieces, wie die grossformatigen Wandbilder in der Sprache der Sprayer heissen, ziehen unseren Blick auf sich und fordern und heraus, weil der Name des Writers nicht auf Ahieb entzifferbar ist. Die Werke von Street-Art-Künstler wie Banksy, Shepard Obey oder Blek le Rat begegnen uns als Sujets auf Postkarten oder T-Shirts, manche dieser Werke können sogar in Galerien erworben werden. Die suversive Bewegung, deren Anfänge in den 1970er-Jahre liegen, ist längst zum festen Bestandteil unserer Kultur geworden. Und dennoch: Die Akzeptanz für diese illegalen Wandbilder ist in der Bevölkerung nachwievor nicht sehr gross. Graffiti ist Vandalismus. Wer illegal sprayt, wird verfolgt und muss mit Bussen von mehreren tausend Franken oder einer Haftstrafe rechnen.

Das Unverständnis der in Winterthurer aktiven Sprayer war gross, als sie im Herbst 2012 erfuhren, dass sie die Wand der Eisenhandelsfirma Briner in der Grüze nicht mehr als legale Fläche nutzen dürfen. Rund 20 Jahre lang diente die Wand als lokale Wall of Fame. Weil sich im Herbst vermehrt fremdenfeindliche Parolen an dieser häuften, entschied sich die Firmenleitung, die Graffitis an der Wand nicht mehr zu tolerieren. «In der Grüze zu sprayen wurde illegal», sagt Sprayer Mauro Masciovecchio. Und dies obwohl eigentlich klar war, dass die Parolen kaum von den lokalen Graffiti-Künstlern stammen konnten. Die Grüze ist längst nicht mehr nur ein Treffpunkt fpr die Sprayerszene. Auch viele andere Jugendliche treffen sich gerne bei der Holzhütte, die seit Jahren als Übungsfläche für die jungen und noch unerfahrenen Sprayer dient. Mehrere dzrtzend Farbschichten lagern hier übereinander. Junge ambitionierte Sprayer üben hier ihren Writernamen zu malen, andere begnügen sich mit Tags oder Parolen.

Nur für die Künstler der Szene

Die Wand der Firma Briner ist für die erfahrenen Sprayer reserviert. Für diejenigen also, die bereits einen Namen oder einen gewissen Fame in der Szene erlangt haben. Dazu gehören Writer wie Mauro, bekannt unter dem Namen Phun, und seine Crew Ibas und Chromeo und seine Crew USB, die für ihre aufwendig gestalteten Graffiti bekannt sind. Daneben gibt es die etwas jüngere Generation mit Sprayer Tors, Keyo udn Gmup. Sie haben sich mit zwei Sprayern aus Baden zur Crew Gunk zusammengeschlossen. Zu Ets gehören Nero, Ruin und Manie. Und dann gibt es noch einige, die keiner Crew angehören, wie der Writer Ersl, der vor zwei Jahren nach Winterthur gezogen ist.

Seit mindestens zehn Jahren sprayen die Mitte-20-Järhigen. Technisch und künstlerisch gut gemalte Graffiti werden kaum übermalt. Aus Platzmangel müssen die guten Graffiti dann aber doch nach einer gewissen Zeit neuen weichen, erklärt Tors. Wenn dann sollte allerdings ein ebenso gutes Piece das alte ersetzen – ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich die in Winterthur aktiven Sprayer halten. Ein Problem stellen allerdings die liegengebliebenen Spraydosen dar, die oftmals Jugendlichen in die Hände fallen, die «nichts mit Graffiti zu tun haben und ihren Trash über die Pieces sprühen, erzählen die Writer Keyo, Tors und Nero, die sich seit Herbst 2012 zusammen mit Mauro dafür einsetzen, dass in der Grüze weiterhin eine legale Zone bestehen bleibt. Der Einsatz hat sich gelohnt: Die Wand der Briner AG darf für Veranstaltungen, sogenannte Jams weiterhin als Plattform genutzt werden. Vorübergehend dient den Sprayern die Bretterwand der BAustelle in der Grüze als Sprayfläche. Doch der Platz ist begrenzt, vor allem den Jungen fehlt die Möglichkeit zu üben. Verschwindet die legale Plattform müssen sie sich auf die Suche nach illegalen Wänden machen, wenn sie weiterhin ihrer Leidenschaft nachgehen wollen.

Ein Verein für urbane Kultur

UM neue legale Flächen zu finden, rief Mauro zusammen mit ein paar weiteren Sprayern den Verein für urbane Kultur Winterthur (VUKW) ins Leben. Der Verein soll sich für die Förderung des legalen Sprayens udn die Akzeptanz der Graffiti-Kultur einsetzen. Die Sprayer treten aus ihrer Anonymität heraus. «Als einzelner hat man bei einer Anfrage für eine Wand kaum eine Chance. Mit dem Verein können wir nun etwas erreichen, weil die Leute wissen, wer dahinter steht», safr Mauro. Das Ziel des Vereins besteht darin, in Zusammenarbeit mit der Stadt und Privatbetrieben neue Wände zu suchen, um legal sprayen zu können, aber auch Graffiti-Events zu organisieren. Im Mai 2013 wird der Verein zum Beispiel im Jugendhaus Wnterthur für dessen 50. Jubiläum einzelne Räume bemalen. Die dort entstandenen Graffiti können am 24. und 25. Mai 2013 im Jugendhaus besichtigt werden.

Die Suche nach neuen Wänden gestaltte sich allerdings schwierig. Es braucht viel Arbeit udn Geduld, bis man sich bei den zuständigen Behörden Gehör verschaffen kann. Die Frustration ist den Sprayern deutlich anzumerken, wenn sie von den Absagen erzählen. Vor allem ärgert sie die widersprüchlichen Antworten und das Unverständnis gegenüber der Graffiti-Kultur, der kaum Freiräume zur Verfügung gestellt werden. Die Antwort des Bundesamts für Strassen (Astra) auf die Anfrage, ob die Autobahnwand bei der Shclosstalstrasse als legale Fläche benutzt werden kann, lautete folgendermassen: «Das Bundesamt für Strassen hat betreffend Graffiti eine restriktive Politik. Praxis ist, Graffiti mit Strafantrag zu melden und anschliessend grau zu überstreichen. Der technische Hintergrund ist, dass dick besprühte Wände die Zustandserfassung der Bauwerke erschwert.» Für die Sprayer eine unverständliche Absage. Läuft das Übermalen von Graffiti denn nicht auf das gleiche hinaus, wie wenn Sprayer die Unterführung bemalen?

Stefan Wagner, Graffitipolizist der Stadtpolizei begrüsst den Ansatz des vereins, legale Flächen zu suchen. Es zeige sich, dass die Sprayer reifer geworden sind und eine Auseinandersetzung mit der Graffitikunst stattfindet. Wagner kennt die Sprayer schon seit Jahren. Siet 1998 bekämpft er in Winterthur Vandalismus. Und dies erfolgreich: Winterthur gehört zu den saubersten Städten weltweit. In der Altstadt findet man kein einziges Graffiti. Vereinzelt sieht man an der einen oder anderen Haussfassade sogenannte Tags. «Diese stammen aber vor allem von den 14 bis 20-Järhigen, die im Ausgang ihre Schmierereien hinterlassen», sagt Wagner. Das Risiko illegal eien Wand zu besprayen, ist vielen zu hross. «Ab 20 Jahren riskiert ein Sprayer zu viel. Da er sich nicht mehr vor dem Jugendgericht verantworten muss, drohen ihm Strafen von mehreren tausend Franken.» Es seine zudem oftmals nicht nur die Bussen,die der Sprayer übernehmen muss, sonderna uch die Wiederinstandsetzung der Wand, die er beschädigt hat. «Die Jungen sind sich dem Ausmass des Schadens, den sie mit einem illehalen «Bombing» anrichten, oft gar nicht bewusst», sagt Wagner. Mauro, der von Wagner mehr als einmla erwischt wurde, kennt das Strafmass gut. 250'000 Franken beträgt der Schaden, den er als Jugendlicher angerichtet hat. Und auch andere Sprayer können von hohen Schadensummen berichten, die sie durch ihre illegalen Aktionen angerichtet haben. Zwar gibt es auch in Winterthur nach wie vor eine illegale sSzene. Diese hat sich hedoch in die Peripherie verlagert oder ist wie die legale Szene auch oft in anderen Städten unterwegs.

Zwischen den Sprayern un dWagner herrscht eine Respektsbeziehung. Solange die Sprayer den Ehrencodex einhalten, die Atstadt sauber zu halten, gibt es auch keine Probleme. «Graffiti ist nach Gesetz Vandalismus, egal ob es schön ist oder nicht», sagt Wagner. Dass die Akzeptanz gegenüber der Graffitikultur nicht sehr gross ist, liegt aber auch daran, dass «die Stadt ein etwas veraltetes Bild der Graffitiszene hat. Sie wirft die Sprayer in den gleichen Topf mit denkenigen, die im Ausgang schnell etwas an die Wand sprayen», sagt der Graffitifachmann der Stadtpolizei. Er gibt aber zugleich zu bedenken, dass die Sprayer lernen müssen, Kompromisse einzugehen und zum Beispiel Auftragsarbeiten zu machen, bei denen ihnen bis zu einem gewissen Grad vorgegeben wird, was sie zu malen haben.  «Unterfrührungen müssen in fröhlcihen Farben bemalt werden, sonst fürchten sich die alten Menschen», gibt Wagner zu bedenken.

Auftragsarbeiten, um legal sprayen zu können? Wiederspricht das nicht dem Ideal eines Graffitisprayer? Der Anspruch nach Authentizität steht bei allen in Winterthur aktiven Sprayern im Vordergrund. «Graffiti ist eine Leidenschaft», sagt der 25-jährige Tprs. Es gehe darum, seinen eigenen Style zu finden, nicht den von einem anderen Sprayer zu übernehmen. Während sich die Sprayer noch vor 10 Jahren über das aktuelle Geschehen innerhalb der Bewegung mittels Graffiti-Magazinen informiert haben, findet heute die Auseinandersetzung mit der Subkultur über das Internet statt. Styles werden schneller kopiert, eine Reflektion über die eigentliche Kultur findet bei der Nachwuchsgeneration kaum mehr statt. Zu schnell wird irgendetwas an die Wand gemalt. Und vor allem beim illegalen «Bombing» hat ein Sprayer wegen der massiven Verfolgung kaum mehr Zeit, ein gutes grossformatiges Bild zu malen. Hier geht es nur noch um den Fame, es geschafft zu haben, an einer schwierigen Stelle gesprayt zu haben.

Bei Graffiti geht es um die Schrift, um das Spiel mit den Buchstaben. «Nur wenige Sprayer sind spezialisiert auf figurative Bilder, die in Auftragsarbeiten erwünsct werden», sagt David Kümin alsias Chromeo. Er ist neben MAuro einer der wenigen Sprayer, die sich mit Auftragsarbeiten die Utensilien wie Spraydosen oder Dispersionsfarbe verdienen können. David, der an der Hochshcule Luzern Kunst im öffentlichen Raum studiert hat, würde sich selbst als Hybrid zwischen Graffiti und Street-Art-Künstler bezeichnen. «Graffiti ist nicht gleich Street-Art oder Street-Design, sondern hat eine ganz eigene Ästhetik, erklärt der 31-Jährige. Während sich die Street-Art versucht uns Stadtbild zu integrieren, wird bei Graffiti die Architektur meist vollkommen ignoriert. «Graffiti ist ein Kommunikationssystem. Die Leute lesen die Worte, verstehen sie aber nicht und begreifen deshalb auch nicht, worauf das Geschehene sich bezieht÷, sagt David. Die Aussage eines illegalen «Bombing» ist eine Nachricht an die anderen Sprayer: «Als ich 1999 angefangen habe zu sprayen, erkannte ich sofort, ob der Sprayer aus Belrin, Amsterdam oder Basel war.» Wegen der Copy-Paste-Kultur, die durch das Internet aufkam, gng ein Stück Authentizität verloren. Für die Jungen ist Sprayen vielleicht hip, sie reflektieren ihr eigenes Tun dabei aber nicht. Konsum beduette für die Graffitikultur somit bis zu einem gewissen Grad auch Identifikationsverlust. Auftragsarbeiten bieten den Sprayern zwar neue Plattformen, doch geht es dabei das Ursprüngliche der Graffiti und auch der Street-Art-Kultur verloren. Graffiti funktioniert an den Betonwänden einer Stadt, nciht im Wohnzimmer oder auf Leinwänden in einer Galerie, vor allem da da Graffiti nie den Anspruch hatte eine Kunstbewegung zu sein. Graffiti wiird nicht auch unserer Gesellschaft verschwinden, wenn man den Sprayern die legalen Flächen verweigert. Was aber mit der zunehmenden Repression verloren geht, ist die Kultur und die Authentizität der Szene.

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