Wir wollen Winterthur neu entdecken. Zum Beispiel die Zürcherstrasse: Da sind Fast Food und Rotlicht, klar. Aber wie steht es um die vielen Spünten? Weil wir hoffen, unter ihnen zu finden eine Perle zu finden, wollen wir auf Beizentour entlang dieser verruchtesten aller Winterthurer Strassen.
Weil es sich auf nüchternen Magen nicht gut trinkt, gehen wir zunächst zum Znacht ins Café Frosch. Dieses hat in jüngster Zeit mehrere Besitzerwechsel erfahren und heisst jetzt eigentlich Restaurant Frosch. Nur ein Tisch ist besetzt, als wir das Lokal vis-a-vis dem Zentrum Töss an diesem Freitagabend betreten. Und jene Gäste verlassen es, noch bevor unser Essen auf dem Tisch steht. Zu Unrecht! Wir haben nämlich Wiener Schnitzel und Hamburger bestellt und Riesenschnitzel und Riesenhamburger erhalten. Fein. Und obwohl es dem «Frosch» letzten Endes ein wenig an Charme fehlt, sind wir uns einig, unser Geld gescheit ausgegeben zu haben. Das Essen zu viert mit Bier und Wein kostet uns 130 Franken, Trinkgeld inklusive.
Gekräftigt gelangen wir zum Restaurant zur Post, kurz nach der Tössemer Coop-Filiale. Im ersten Stockwerk lehnen sich zwei Typen aus dem Fenster und rauchen etwas und geniessen ihren Ausblick auf die Autos, die auf der Zürcherstrasse in die Unterführung brausen. Man sagte uns, dass der Besitzer der Immobilie ein Millionär aus Küsnacht sei, der sein Geld mit Kontaktbars verdiene und trotzdem nichts gegen das rinnende Dach in Töss unternehme. Das mausbraune, verlotterte Haus macht nicht wirklich Lust auf mehr. Wir gehen trotzdem ins «Pöschtli» und schaffen es nur bis zur Garderobe: Sorry, heute geschlossene Gesellschaft. «Aber ins Fumoir dürft ihr gerne!», sagt der sympathische Wirt. Dieses misst kaum mehr als fünf Quadratmeter und ist zugleich Abstellkammer für allerlei Ramsch: Spielsachen, Fasnachtsmasken und alte Bücher, die selbst für Geld niemand lesen würde («Die Liebe meines Lebens», «Das Herz meiner Mutter», «Damals war ich siebzehn»).
«Ihr wart im Frosch?», begrüsst uns ein Raucher. «Mir ist das zu teuer. Ich meine, dort kostet der halbe Weisse glaubs 27 Franken. Hier sind es 18 Franken. Das ist schliesslich immer noch in Töss!»
Aber das «Pöschtli» ist leider nicht mehr die Stammbeiz, die wir vorzufinden erhofft haben. Jene schloss vor anderthalb Jahren ihren Betrieb, dann stand das Lokal für sechs Monate leer. Die neuen Wirte führen nun ein «echtes» Restaurant samt warmer Küche. Trotzdem fällt die Runde Getränke (zwei Stangen, Gespritzter Weisser und Rotwein) mit 17.60 Franken günstig aus. Und gut: «In Zürcher Szeni-Schuppen hatte ich schon schlechteren Rotwein», sagt der Zürcher D.
Wir ziehen aber weiter, weil der Abend noch jung ist. Schliesslich wird die Zürcherstrasse noch einiges zu bieten haben. Mitnichten: Wir gehen stadteinwärts und müssen erst einmal feststellen, dass sowohl «James’ Billard» als auch «Nana’s Bauchtanz» heute geschlossen sind, ebenso die «Industriehalle». Da bleibt uns nichts anderes übrig, als den Rank ins Quartier zu nehmen. Im «Grütli»: ebenfalls dunkle Fenster. Was ist heute nur los?
Endlich: Vor dem «Eiffelturm» stehen Menschen. Aber keine fröhliche Abendgesellschaft, sondern grimmige Männer mit Lederjacken und Gelfrisuren. So wie sie merken, dass wir «ihr» Lokal zu betreten beabsichtigen, unterbrechen sie ihr in einer fremden Sprache gehaltene Gespräch, mustern uns unverhohlen skeptisch und begrüssen uns schliesslich mit einem breiten «Grüezi». Freundlich? Ironisch? Und warum blutet dieser Typ da aus der Nase?
Drinnen sitzen weitere Männergruppen an den Tischen. Laute Balkanmusik, Gelächter und Abklatschen. Nur eine Frau ist im «Eiffelturm»: die Kellnerin. Und jetzt mit unserer Gruppe zwei Frauen mehr. Wir fühlen uns deplatziert, dermassen sogar, dass wir die Kellnerin um Erlaubnis bitten, hier etwas trinken zu dürfen. Sie lässt sich nichts anmerken und meint lächelnd «Natürlich!». Aber sie weiss es auch und wechselt sogar ohne unser Zutung die Musik für uns. Jetzt kommt sanfter Radioblues statt lauten Beats aus den Boxen, neben denen grosse Wodka-Flaschen stehen, je fünf Liter bestimmt und kunterbunt, wie die Träume, die sie versprechen. Wir bleiben bei Bier und Wein.
«Du, die schauen uns aber böse an», sagt A. «Vielleicht sehen die einfach böse aus», erwidert E. Nein, es stimmt: Selbst der ergraute Herr im blauen Anzug, der als Letzter eingetreten ist, schielt während seiner Schimpftirade (er erzählt erregt von einem Streit um einen Parkplatz) mit zu Schlitzen verengten Augen rüber. So richtig warm wird uns hier nicht, trotz des künstlichen Feuers im falschen Ofen. «Zahlen, bitte!»
Das beklemmende Gefühl, für einmal völlig fremd zu sein, ging uns durch Mark und Bein. So wagen wir uns danach nicht mehr ins «Rüzgar», dieses unverkennbar türkische Café neben Kebab-Verkäufer Anadoulou. Schwere Vorhänge signalisieren: Hier gibts für euch nichts zu sehen. Und für das benachbarte Astoria wiederum haben wir uns noch nicht genug Mut angetrunken. Darum staunen wir nur über die vielen BMW-Karrossen, die vor dem Astoria stehen wie Pferde vor dem Saloon, während ihre Cowboys drinnen das «Lasso» schwingen.
Ein solcher Saloon wäre die «Harmony». Würden wir aber dorthin, wäre bald Sense, weil stadteinwärts die letzte Beiz ist. Also die andere Richtung: Wir nehmen den 1er-Bus für eine wärmende Fahrt bis zur Endstation. Dort steht Jimmy’s Bar, ein schummriges, kleines Lokal, das rund zwanzig Leute Platz bietet. Halbwüchsige und Breitbäuchige trinken hier zu House-Remixes von Hitparadensongs und spielen Dart. Und seit wir da sind, gehen sie auch raus zum Rauchen. Wir bestellen – natürlich – grosse Biere und Rotwein. Die Bardame ist erst verwirrt zwischen dem Unterschied von Rosé und Rotwein. Schliesslich balanciert sie unser Tablar aber sicher durch die Tische, und das auf 15-Zentimenter-Absätzen.
Die Cevapcici für 12 Franken gelüsten uns nicht. Viel eher sind wir von der Idee des Dartspiels angetan, aber der Kasten bleibt vorerst besetzt. Hm. Wir überqueren drum den letzten Fussgängerstreifen auf der Zürcherstrasse, bevor sie zur Autobahn wird und gehen rüber in die Champions Bar. Die Champions Bar? Genau: das ist die Bar, vor welcher der Betreiber bei einem Schusswechsel angeschossen wurde. Ein Jahr ist das jetzt her. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den ältesten Bruder von jenem Kosovaren, der 2005 auf einem Parkplatz in Dübendorf einen Mazedonier erschossen hatte und dessen drei weiteren Brüder wiederholt wegen Drogen- und Gewaltdelikten verurteilt worden sind. Ein Besuch in dieser Bar dürfte also ziemlich aufregend werden für unbescholtene Blätter wie uns.
Falsch gedacht: Auch hier läuft wenig. Einige Jungs sind im Fumoir, einer unterhält sich an der Bar mit der Kellnerin. Eine kriminelle Aura haben die nicht. Leider ist die elektronische Dartscheibe ausgesteckt. Der Typ von der Bar sieht aber meinen Blick zum Kasten und bietet sogleich an, diesen in Betrieb zu setzen. Toll. Dann erklärt er uns sogar, welches Spiel am Ehesten unseren Wünschen entspricht (501) und wo wir hinzustehen haben (gelbe Markierung am Boden). Danke, Champions Bar, für eine gute Runde Dart.
Auf der Suche nach einem sicheren Hafen legen wir schliesslich Anker im Gaswerk und resümieren mit dem Bier in der Hand. Was vom Abend übrig bleibt: Ernüchterung. Es gibt kaum Spünten an der Zürcherstrasse, in denen sich die Menschen aus dem Quartier spontan einfinden. Es sind Treffpunkte für ein strikt entmischtes, vorwiegend männliches Publikum. Gebietsfremde Eindringlinge werden zwar überall freundlich bedient. Auf sie gewartet hat aber niemand.
Und dann schauen wir uns um: Auch im Gaswerk stehen vorwiegend Männer rum, und auch sie sind in Kleidung und Aussehen eigen, auch hier gelten andere Codes. In dieser Hinsicht ist wohl kein Lokal über alle Zweifel erhaben.