«Meine Naivität war tatsächlich nötig»

Die Architekturstudentin Nadina Dollie startete zum Spass ein Filmprojekt. Entstanden ist ein Kurzfilm mit 30 Mitwirkenden, der an den Schweizer Jugendfilmtagen 2021 als Eröffnungsfilm gezeigt wird. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen.

Alessia Albizzati: Dein erstes grosses Kurzfilmprojekt feiert an den Schweizer Jugendfilmtagen 2021 Premiere. Um was geht es in «Verzasca in Red»?

 Nadina Dollie: Es geht um ein deutsches Paar, das ins Verzascatal in die Ferien reist. Also um Sommer, Romantik, Ferien. Ihre Beziehung scheint perfekt. Doch die Protagonistin Marie beginnt, in ihren Träumen einer Traumfrau zu begegnen, und entdeckt dadurch ihre auf Frauen bezogene Sexualität. Sie entdeckt also einen neuen Teil von sich. Zuerst nur über diese Träume, doch dann trifft sie auf ein anderes Paar, das im Verzascatal seine Ferien verbringt. Für Marie beginnt eine Selbstfindung, die Realität und Traum vermischt. Dies wird alles in einem überbelichteten Summer Vibe abgebildet. Ich will nicht zu viel verraten, aber es geht schlussendlich um den Konflikt zwischen diesem neu gefundenen Ich und ihrer intakten Beziehung. Es ist ein sehr visueller Film mit viel Stimmung und Bildern.

AA: Was möchtest du mit dem Film aussagen und auf welche Aspekte hast du besonders Wert gelegt?

ND: Das Drehbuch hat eigentlich anders angefangen. Zu Beginn ging es nicht so sehr um das LGBTQ+-Thema, aber um eine gewisse innere Unruhe. Ich hatte schon immer eine Leidenschaft für Set Designs. Dort fühle ich mich sehr wohl, wie auch beim Schaffen von bestimmen Stimmungen und Atmosphären. Ich wusste genau, wie der Film aussehen muss. Mit all den Outfits und den Moods. Er hat einen 70s-Look, ist zwar nicht stilrein, hat aber schon dieses Feeling. Der Film ist sehr ruhig und in sich gekehrt. Er dreht sich um die Protagonistin, ihren Traum und ihre Verwirrung, und will auch gar nicht mehr. Er zwingt sich niemandem auf.

 

AA: Wie ist es zu deiner Teilnahme am Wettbewerb der Jugendfilmtage gekommen?

 ND: Ich muss sagen, ich hatte einfach dieses Drehbuch und einige Leute für einen Filmdreh zusammengesucht. Dann hat jemand gemeint, ich soll es doch bei den Jugendfilmtagen einschicken, man könne Sachen gewinnen. Ich habe es also, so wie es war, eingeschickt und dann vergessen. Als die Nachricht kam, ich hätte gewonnen, war das ein kleiner Schock für mich. Von da an wurde es von einem kleinen diskreten Projekt zu einer Explosion. Plötzlich hatten viele Leute Interesse daran und ich dachte nur: Ich habe keinen Masterplan. Per Zufall habe ich also teilgenommen.

 

AA: Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch diesen Förderpreis eröffnet?

 ND: Zum Preis gehören drei Tutorings mit einem*einer professionellen Filmschaffenden, der*die einen unterstützt. Das Wertvollste ist eigentlich die Plattform, das Publikum und die Premiere. Wir sind alle mit dem Projekt gewachsen. Der Traum war also nicht von Anfang an eine grosse Premiere – und nun werden wir sogar als Eröffnungsfilm des Festivals gezeigt.

 

AA: Durch die Covid-19-Pandemie stiessen Kulturschaffende auf unterwartete Herausforderungen. Inwiefern hat sich die Planung und Realisierung deines Films verändert?

 ND: Mein Kamerateam besteht aus ZHdK-Studierenden und daher war geplant, das gesamte Material mit ihrer Legi von der ZHdK auszuleihen. Doch wegen Corona durften nur noch Schulprojekte mit diesem Material verwirklicht werden. Wir hatten also keinerlei Material. Deshalb ist mein Kamerateam auf die Jagd und hat mit seinen Freund*innen Deals gemacht. Ausserdem haben wir auf einer Geldsammelseite dank unseren Facebook- und Instagram-Freund*innen mit Mikrobeträgen 2000 Franken sammeln können. Den Rest habe ich mit meinem Feriengeld bezahlt, da ich ja wusste, dass ich einen Film machen will. Zudem haben nur Freiwillige an meinem Projekt mitgearbeitet. Wir haben dementsprechend alles zusammengekratzt.

 

AA: Das Filmen selbst hat dann im Sommer stattgefunden. Hatte die Pandemie Einfluss auf den Dreh?

 ND: Das war ziemlich witzig, denn genau eine Woche vorher wurden alle Massnahmen wieder gelockert. Nur der Campingplatz blieb geschlossen und das gesamte Team hatte somit keinen Schlafplatz. Doch ein Bekannter meines Freundes wohnt im Verzascatal und wir durften spontan in seinem Haus übernachten. Das war alles etwas mühsam. Beim Dreh sind wir allerdings auf ein grösseres Problem gestossen als Corona. Denn wir hatten zwar eine Drehbewilligung für «Carona», den Ort, wo wir den gesamten Film drehen wollten, aber drei Tage vorher haben mich die dortigen Behörden angerufen und abgesagt. Sie hätten ein anderes Kamerateam zum gleichen Zeitpunkt vor Ort. Ich war natürlich wütend. Aber sie wollten keine Ausnahme machen, da das andere Filmteam von Mercedes sei und mit Roger Federer drehe. Wir haben also am gleichen Tag wie Roger Federer dort gedreht.

 

AA: Wie konntet ihr schlussendlich dieses Problem lösen?

 ND: Wir haben «illegal» gedreht, da die Dorfbewohner*innen und die zuständigen Behörden meinten, wir seien von Mercedes. Denn plötzlich stand ein Typ auf unserem Set, anscheinend kannten sich unsere Kamerateams, und fragte unsere «Technoboys» um Hilfe. Mein Team löste dann die technischen Probleme der Mercedes-Crew und somit sah es so aus, als würden wir zu ihnen gehören. Das Restaurant, in dem wir zwei Tage drehen wollten, durften wir schlussendlich auch nur einen Tag mieten, da Roger Federer dort seinen Risotto geniessen wollte. Wir mussten dann in der Nacht filmen, was wir eigentlich allgemein vermeiden wollten. Mercedes war also eigentlich das grössere Problem als Corona.

 

AA: Das Filmemachen ist für dich, als ETH-Vollzeitstudentin, zurzeit noch eine Nebenbeschäftigung. Wann hast du begonnen, selbst Filme zu machen?

ND: Ich bin eigentlich in das Ganze reingerutscht. Film und Theater fand ich schon immer cool. Bei der Studienwahl stand ich dann vor der Frage: Filme schreiben oder Architektur studieren? Ich bin der Vernunft gefolgt und habe mich für Architektur entschieden. Das mit dem Film war und ist aber immer präsent. Ich habe bereits zwei wirklich sehr, sehr kleine Kurzfilme umgesetzt. Als ich den Film «Call Me By Your Name» sah, mit all seinen wunderbaren Bildern und dem italienischen Sommerambiente, habe ich mir dann gedacht: Jetzt muss ich selber einen Film machen. Durch diese Inspiration wollte ich eine sommerliche Leichtigkeit mit einer etwas schwereren Geschichte verbinden und den Schwerpunkt auf die Bilder und das Gefühl, das einem beim Verlassen des Kinos begleitet, legen. Die Schweiz hat eine so schöne Natur, deshalb wollte ich meinen Film auch unbedingt im Tessin drehen. Im Sommer 2019 habe ich dann begonnen, mein Drehbuch zu schreiben.

 

AA: Dein erstes Projekt ist also zugleich mit einer grossen Produktion verknüpft?

 ND: Ja. Dazu muss ich sagen, dass meine Ahnungslosigkeit vom Filmemachen wirklich ein Segen war. Denn hätte ich den Aufwand gekannt, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Ich habe mich bei meinem Kameramann auch einmal entschuldigt dafür. Er hat mir dann erklärt, dass mein Projekt sehr intensiv war, er sich dem aber auch bewusst gewesen sei, im Gegensatz zu mir. Der Dreh hat nämlich sieben Tage gedauert und ich habe am Projekt insgesamt über eineinhalb Jahre gearbeitet. Die Naivität war also tatsächlich nötig.

 

AA: Du besuchst keine Filmschule oder ähnliches. Wie konntest du wichtige Kontakte knüpfen? Besteht dein Team ebenfalls aus Freizeitfilmemacher*innen?

ND: Ich bin wirklich Fan von meinem Team. Wir nennen es «unsere Mafia», weil wir im Tessin untereinander eine sehr enge Beziehung aufgebaut haben. Und ich muss sagen, ich hatte zwar die Idee und etwas ins Rollen gebracht, aber das Projekt braucht so viele Leute, so was macht man nicht alleine. Jede*r hat sein Ding beigetragen. Ich habe eigentlich klein angefangen. Ich spiele seit Ewigkeiten Theater und kenne von da zwei meiner Schauspieler*innen. Eine weitere Schauspielerin lernte ich durch eine Kollegin kennen und deren Freund ist per Zufall mein Kameramann geworden. Dies war ein riesiger Glücksfall, denn durch ihn stand mir plötzlich eine Welt offen von ZHdK-Studierenden. In dieser «Film-Bubble» sind die Leute ausserordentlich lieb, kommunikativ und hilfsbereit. So entstand eine Art Lauffeuer und schon hatte ich mein Team zusammen. Und da man in seiner Crew so intensiv miteinander zusammenarbeitet, lernt man mit der Zeit auch deren Umfeld kennen. Als wir dann den Instagram-Account für den Film erstellt haben, haben mich plötzlich weitere Leute angeschrieben. Übers Internet sind also auch einige Personen dazu gekommen. Es gibt zudem schnell einen Drive mit den Aspekten Sommer, gute Stimmung und Action. Plötzlich hatte ich sehr viele Leute, was mich dann auch überfordert hat. Ich dachte zum Beispiel für einen Film braucht man extrem viele Statist*innen, da wahrscheinlich alle wieder absagen, wie bei Partys. Schlussendlich musste ich aber 30 Statist*innen absagen.

 

AA: Gab es Vorteile, dass du das Team und die gesamte Produktion als «Laiin» geführt hast?

 ND: Da ich mit meinem Studium ein festes Fundament habe, hatte ich keinen Druck, dass ich mit diesem Film etwas erreichen muss. Ich ging mit der Einstellung daran: Wir machen einfach und es wird gut, so wie wir das machen. Das hat auch dem ganzen Team geholfen. Gut ist auch, dass ich durch mein «Nicht-Wissen» die Energie für sehr aufwändige Sachen hatte, wie zum Beispiel weit entfernte Drehorte oder ein Dreh in einer Kirche zu organisieren. Ich glaube, ich hatte unglaublich viel Energie, wie eine Praktikantin am ersten Tag, und das hat sich auf die Crew übertragen. Die Schwierigkeiten haben wir dann meist erst auf dem Filmset entdeckt.

 

AA: Wie funktioniert die Finanzierung deiner Projekte und welche Schwierigkeiten bringt dieser Aspekt mit sich?

 ND: Es ist tatsächlich nicht ganz einfach mit der Finanzierung. Denn oft erfüllt man gar nicht oder knapp nicht die Bedingungen für ein Sponsoring. Sponsoren finden ist wirklich brutal anstrengend. Wir haben sehr viele Sonntage damit verbracht, Briefe zu schreiben. Es braucht einen gewissen Mehrwert für die Firmen, damit sie einen unterstützen. Das ist bei einem Film extrem schwierig. Die Schweiz hat eine kleine und kaum geförderte Filmszene – so hat es sich zumindest bei der Verwirklichung und vor allem bei der Suche nach Sponsoren für dieses Projekt angefühlt. Deshalb habe ich mich irgendwann einfach dazu entschlossen, mein Erspartes zu brauchen.

AA: Wie sieht es zukünftig mit deiner Filmkarriere aus?

ND: Mhm … Ich habe bereits Ideen für Neues. Jetzt habe ich einen halben Fuss drin und das ist cool. Ich habe auch schon wieder an einem kleinen Wettbewerb teilgenommen. Am meisten Spass machen mir die Bereiche Drehbuch, Set-Design und Regie. Ich denke, ich fahre weiter zweigleisig. Vielleicht funktioniert das ja und falls nicht, dann halt eben nicht.

 

Alessia Albizzati schreibt fürs Coucou, ist begeistert von Filmen aller Art und verfolgt das Projekt über Nadinas privaten Instagram-Account seit Beginn.

 

 

Nadina Dollie ist in und um Winterthur aufgewachsen und hat bereits in jedem Winterthurer Wald kleine Film- oder Fotoprojekte verwirklicht. Ihr Film «Verzasca in Red» feiert am 18. März 2021 an den Schweizer Jugendfilmtagen Premiere.

 

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