Velorennen

Ein Vierteljahrhundert Velokuriere

Nach einem bewegten Vierteljahrhundert feiert der Velokurier Winterthur Ende September auf seine ganz eigene Art und veranstaltet die Schweizermeisterschaft der Velokuriere.

Waghalsige «Gümmeler» rasen über ein altes Fabrikgelände, als ginge es um Leben und Tod. Aber beim Wettrennen der Velokuriere steht «nur» der Ruhm im Vordergrund. Der Kurier, der am schnellsten alle Posten erledigt hat, gewinnt den Wettbewerb und die Anerkennung der anderen Kurierfahrenden. Nach dem Rennen wird ausgelassen getanzt, geraucht und getrunken.

Was wie die Anfangsszene des Schweizer Films «Dead Fucking Last» tönt, wird sich am 30. September und 1. Oktober auf dem Lagerplatz so oder ähnlich abspielen. Zum ersten Mal nämlich findet in Winterthur die Schweizermeisterschaft der Velokuriere statt. Auf dem Sulzerareal wird gefahren und im Kraftfeld gefeiert werden; letzteres zwischen den beiden Renntagen. Das sei normal, sagt Rolf Kägi, selbst Velokurier und Rennleiter bei der Schweizermeisterschaft. Er hat oft an nationalen und internationalen Wettkämpfen teilgenommen. «Diejenigen, die es ernst nehmen, gehen schon meistens irgendwann schlafen», sagt er. «Doch für so manche ist das Resultat zweitrangig, und diese gehen dann fast direkt vom Ausgang an den Start.»

Die Anfänge der Winterthurer Velokuriere

Dieser Mix aus Competition und Fun ist es, was Rolf Kägi an solchen Rennen gefällt. Dass er und seine Velokurier-Kolleginnen und -Kollegen aber ausgerechnet dieses Jahr die Schweizermeisterschaft veranstalten, hat einen besonderen Grund: ihr eigenes 25-jähriges Jubiläum. 1992 gründete Markus «Mäcke» Walter den «Veloblitz Winterthur», den er mit zwei Kollegen betrieb. Bereits ein Jahr später begann er abenteuerlustige Mitstreiter zu suchen, mit denen er eine richtige Firma gründen konnte. Er fand unter anderem Daniel Rüegg.

Dieser arbeitete 1993 in einer Druckerei, dem damaligen Hauptkunden der Velokuriere. Einmal habe er an einem regnerischen Novembertag eine Lieferung entgegengenommen, erinnert er sich: «Ich fragte den Kurier: Ist das nicht scheisse bei diesem Wetter? Darauf antwortete er: Nein, es ist schöner bei Regen draussen, als bei Sonnenschein drinnen zu sein.» Das hat Daniel Rüegg eingeleuchtet, und als er dann erfuhr, dass Walter jemanden suchte, der bei der Firmengründung half, war er Feuer und Flamme. An der Technikerschule hatte er sich nämlich intensiv mit Genossenschaften auseinandergesetzt und sah nun eine gute Gelegenheit, eine zu gründen: «Noch mehr als das Velofahren motivierte mich die Vorstellung, zusammen mit Freunden und ohne Chef arbeiten zu können», sagt er.

«In Winti fährt man nicht bei Rot»

Daniel Rüegg übernahm 1994 die Federführung bei der Gründung der «Velokurier Genossenschaft Staffel X», da er der einzige der sieben Gründungsmitglieder war, der wusste wie. Auch in anderen Fragen wurde er zum «Chefideologen». Er hat zum Beispiel durchgesetzt, dass sich die Winterthurer Velokuriere – ganz im Gegensatz zu den Zürchern – an die Verkehrsregeln halten und einen Helm tragen. Beides aus Image-Gründen: «In Winterthur macht man sich keinen guten Ruf, wenn man bei Rot über die Strasse fährt», erklärt Daniel Rüegg, «und die Kunden haben das Gefühl, wenn der Fahrer helmgeschützt ist, sei auch die Lieferung sicherer». Einige Velokuriere hätten damals den Helm jeweils gleich nach dem Dienst wieder abgenommen.

Die Gründer steckten viel Herzblut in die Genossenschaft. Daniel Rüegg erzählt, wie viele unbezahlte Stunden er damals geleistet hat. Oft sass er bis in die Nacht im Büro, damals noch an der Wülflingerstrasse vis-à-vis von einem Strip-Lokal. Dort sei es sogar einmal vorgekommen, dass ein Polizist eine Leibesvisitation bei jemandem durchführte, der sich an Daniel Rüeggs Bürofenster anlehnen musste. «Da fühlte ich mich schon recht komisch», sagt er und lacht.

Vieles hat sich in den 25 Jahren bei den Velokurieren geändert. Das Büro befindet sich nun oberhalb des Kraftfelds, das Unternehmen heisst «Velokurier Winterthur», und Gratisstunden werden nur noch selten geleistet. «Bei aller Romantik: Wir arbeiten zwar nicht gewinnorientiert, aber wir wollen doch ein Geschäft sein, dass einigermassen gute Löhne bezahlt», sagt Rolf Kägi, der ebenfalls Geschäftsleiter des Velokuriers Winterthur ist. Seitdem er 2003 anfing, hat sich der durchschnittliche Stundenlohn immerhin von 8 auf 25 Franken gesteigert. Das ist zwar immer noch nicht viel, doch kann man davon leben – auch wenn das Steueramt dies gemäss Rolf Kägi fast nicht glauben will.

Verschlafenes nachgeholt

Seit der Jahrtausendwende hat sich das Velokurier-Business zudem stark verändert. «Schweizweit wurden sehr viele Velokurierunternehmen damit überrascht, wie einschneidend sich die neuen Technologien auf ihr Geschäft auswirkten», sagt Rolf Kägi und spricht damit die Konsequenzen der Digitalisierung für das Kuriergeschäft an. Die Druckereien und Zeitungen brauchten dank E-Mail, Dropbox, WeTransfer und Co keine Kuriere mehr. Also musste nach neuen Geschäftszweigen gesucht werden. Dies gelang nach Krisenjahren anfangs der 2000er-Jahre, in die auch der tödliche Sturz eines der Gründungsmitglieder fiel. Dadurch, dass der Velokurier Winterthur jetzt auch mit Mobility-Autos weitere Lieferungen macht, bestens international vernetzt ist und sich auch nicht zu schade ist, während des Sommerloches Katzen füttern zu gehen, konnten sie sich von der Krise aufrappeln. «Im Moment stehen wir finanziell sehr gut da und erhalten so viele Aufträge wie noch nie», freut sich Rolf Kägi.

Was die Chancen der Winterthurer bei der Schweizermeisterschaft betrifft, ist Rolf Kägi allerdings pessimistischer. «Ich schätze die Chancen der Winterthurerinnen und Winterthurer eher schlecht ein», sagt er. Zu klein sei das Team, und davon werden praktisch alle bei der Organisation beteiligt sein. Der stärkste Winterthurer Fahrer etwa verkauft am Renntag Pizzas.

 

Schweizermeisterschaft der Velokuriere

Samstag, 30. September und Sonntag, 1. Oktober

Samstag: Side Events

Sonntag: Main Race (9-12 Uhr Qualifikation, 14-17 Uhr Finale)

Sulzerareal

https://www.suicmc17.ch/

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