Die Kultur befindet sich im Schwebezustand

Welche Auswirkungen hat der Shutdown auf die Kultur? Ein Interview mit Nicole Kurmann, Leiterin des Bereichs Kultur der Stadt Winterthur.

1.Reagieren auf den Shutdown

Sandra Biberstein: Als der Bundesrat Mitte

März die «ausserordentliche Lage» verkündete,

bedeutete das für sämtliche Kulturinstitutionen

den sofortigen Shutdown. Wie erlebten Sie als

Leiterin des Bereichs Kultur bei der Stadt

Winterthur die Tage vor dem Entscheid?

Nicole Kurmann: Ich hatte damit gerechnet, dass der Shutdown kommt, und diskutierte schon einige Tage zuvor mit meinem Team, den Leiter*innen der städtischen Kulturbetriebe und einigen Direktor*innen der grossen Kulturinstitutionen die Möglichkeit einer Schliessung. Wir hatten, noch bevor der Bund den «Lockdown» kommunizierte, die nötigen Prozesse und die Medienarbeit in den Grundzügen bereits vorbereitet. Die Vorbereitung war auch deshalb wichtig, weil schnell klar wurde, dass wir fortan auf vielen Ebenen gleichzeitig schnell und agil sein mussten. Auf der einen Seite ist der Bereich Kultur direkt verantwortlich für die städtischen Institutionen und ihre Mitarbeiter*innen, auf der anderen Seite dafür, dass es der Kultur in Winterthur insgesamt gut geht. Dazu überschlugen sich zu Beginn in der Stadtverwaltung, beim Kanton und auf Bundesebene die Entscheide, die Einfluss auf unsere Arbeit und die Kultur haben. Wir mussten viel Energie aufbringen, um auf allen Ebenen am Ball zu bleiben und gleichzeitig die nächsten Spielzüge zu erahnen, damit wir uns im richtigen Moment und im richtigen Mass einbringen konnten. Ebenfalls früh haben wir den Kontakt zur Kulturlobby aufgenommen, um unsere Aktionen zu koordinieren und uns darin gegenseitig zu unterstützen.

 

SB: Die Kulturbetriebe zu schliessen ist ein

radikaler Entscheid. Waren Ihnen in diesem

Moment die Folgen für die Kulturinstitutionen

bereits bewusst?

NK: Dass es ein Entscheid mit drastischen Auswirkungen ist, war uns bewusst. Aber es ging in erster Linie darum, Menschen und das Gesundheitssystem zu schützen. Mir war wichtig, dass wir als städtischer Bereich Kultur und auch als Arbeitgeberin eine klare und solidarische Haltung einnahmen. Daraus ergab sich auch, dass wir nicht für jede städtische Kulturinstitution eine individuelle Risikoeinschätzung vornehmen, sondern einen Grundsatzentscheid fällen und alle Betriebe gleichzeitig schliessen würden. Wir hatten zudem 2013 aufgrund der Schweinegrippe das Szenario einer Pandemie bereits einmal durchgespielt und konnten auf erarbeitete Überlegungen zurückgreifen.

 

SB: Sie sind für die Mitarbeiter*innen der

städtischen Kulturhäuser verantwortlich,

darunter die Alte Kaserne und die städtischen

Museen. Welche alternativen

Beschäftigungsmöglichkeiten standen den

Mitarbeiter*innen zur Verfügung?

NK: Als Stadt können wir keine Kurzarbeit beantragen. Wir haben deshalb nach Alternativen für jene Mitarbeiter*innen gesucht, die nicht im Homeoffice arbeiten können. Das Hauswartspersonal der Museen putzte die Museumsgebäude von oben bis unten, im Naturmuseum reparierten die Aufsichten Spielsachen. In der Alten Kaserne schliff der Hausdienst die 30 Jahre alten Klappstühle ab, ihr Gastro-Personal wurde über einen stadtinternen Stellenpool vermittelt, so dass es vorübergehend in den städtischen Alters- und Pflegeheimen arbeiten konnte.

 

SB: Welche ersten Massnahmen wurden für die

subventionierten Kulturinstitutionen und die

Kulturschaffenden getroffen?

NK: Es gab ein grosses Bedürfnis, sich mit der Stadt abzusprechen und sich rückzuversichern, dass man den Entscheid einer Schliessung nicht alleine tragen müsse. Die Afro-Pfingsten zum Beispiel waren mitten in den Vorbereitungen des Festivals, als der Bund Schritt für Schritt das öffentliche Leben einzuschränken begann. Im Bereich Kultur erstellten wir deshalb unter anderem einen «Corona-Infopoint» auf unserer Webseite, wo wir die Informationen bündelten und zusammenfassten. Wir erachteten es als unsere Aufgabe, Orientierung zu bieten – auch wenn uns bei vielen offenen Fragen oft selbst die Antworten fehlten.

Besonders wichtig war die Information für die Kulturbetriebe, dass die Subventionsbeiträge nicht gekürzt und Projektbeiträge weiterhin gesprochen werden, auch wenn die Leistungen aufgrund der Pandemie nicht erbracht werden können. In der Krise ist es entscheidend, dass die Kultur an einem Strick zieht – so finanzieren wir zum Beispiel eine von der Kulturlobby initiierte Rechtsberatung, und viele Winterthurer Kulturakteur*innen teilen ihre Erfahrung und ihr Wissen mit uns. Das hilft uns, so nahe wie möglich bei den Problemen und Fragen zu sein.

 

SB: Welchen Handlungsspielraum haben Sie und

Ihr Team, wenn es darum geht, finanzielle

Soforthilfe auszusprechen?

NK: Als Stadt befinden wir uns in einer Sandwich-Position. Der Bund hat die Covid-Verordnung erlassen und Hilfsmassnahmen definiert. Die Kantone sind beauftragt, diese umzusetzen. Auch die Nothilfe der Stadt Winterthur wird nicht über den Bereich Kultur abgewickelt. Einen aktiven Part übernehmen wir als Anlaufstelle, die zum Beispiel beim Einordnen hilft, an die richtigen Stellen weiterverweist oder die vielen verschiedenen Informationsquellen bündelt und mittels Checkliste griffig zusammenfasst.

 2.Langfristige Auswirkungen

SB: Ende März erstellte Ihr Team einen Bericht,

der aufzeigt, welche Auswirkungen die Covid-

19-Pandemie auf die Kulturszene hat. Welche

Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?

NK: Über solche Monitorings können wir feststellen, ob die Massnahmen des Bundes und der Kantone greifen, und haben Fakten, die unsere eigene Meinungsbildung fundiert und die wir gegenüber städtischen Entscheidungsgremien wie dem Stadtrat einbringen können. Zudem können «Spezialfälle» eruiert werden: Zum Beispiel gibt es zurzeit noch keine Massnahmenpakete für Kulturmagazine wie das Coucou, die von Einnahmeausfällen betroffen sind, oder für regionale Verbände und Branchenvertreter*innen, die die Konzepte für die Hilfsmassnahmen miterarbeitet haben und wichtige Aufklärungsarbeit leisten. Die Verbände haben in der Regel eine nationale, bezahlte Geschäftsstelle, in den regionalen und lokalen Kommissionen wird aber viel ehrenamtliche Arbeit geleistet. Diese Extra-Aufwände zu vergüten, davon spricht aktuell noch niemand.

 

SB: Je nachdem, welche Aussichten auf

Kurzarbeit, zinslose Darlehen und

Ausfallentschädigungen bestehen, sind die

Kulturhäuser laut Monitoring stärker oder

schwächer von der Krise betroffen. Wen trifft

es besonders stark? 

NK: Die Bereiche, bei denen die Subvention einen hohen Anteil der Finanzierung ausmacht, können eine zweimonatige Schliessung überstehen. Je kleiner der Anteil der öffentlichen Hand, beziehungsweise je grösser der Anteil von Drittmitteln ist, desto ungewisser sind die Zukunftsaussichten. Hinzu kommen Faktoren wie zum Beispiel jener, dass Firmen und Unternehmen zurzeit sehr vorsichtig handeln, sie werden kaum als erstes Sponsoringbeiträge für die Kultur sprechen. Oder jener, dass viele Stiftungen ihr Geld angelegt haben und mit einer Verschlechterung des Börsengangs auch weniger Kapitalerträge haben, was wiederum ihre Möglichkeiten, Geld für Förderzwecke auszuschütten, einschränkt. Besonders betroffen sind auch Kulturschaffende aus der freien Szene. Ihnen wurden nicht nur Aufträge abgesagt, es ist auch schwer für sie, neue zu erhalten. Vielen fehlt die Perspektive, das hat neben der finanziellen Seite auch Auswirkungen auf die Moral.

 

SB: In dem Monitoring heisst es: «Die

gegenseitige Abhängigkeit demonstriert

eindrücklich, wie feinmaschig und verwundbar

das Netz aus Kultur- und Kreativschaffenden

ist». Weshalb führt die Abhängigkeit zu einer

Verwundbarkeit?

NK: Wenn Kulturhäuser geschlossen sind, vergeben sie auch keine Aufträge für Drucksachen, Fotografie oder Kreativprojekte, genauso wie alle Caterings, Hotelübernachtungen und Bestellungen bei der Kleinbrauerei oder dem lokalen Sandwich-Lieferanten wegfallen. Die Kreativschaffenden können anschliessend nicht doppelt so viel arbeiten, um ihre Ausfälle aufzuholen. Gerade in Winterthur prägt die Feingliedrigkeit die Vielfalt der Kulturstadt. Lücken in den Wertschöpfungsketten sind ein Risiko für die lokale Charakteristik des kulturellen Lebens und Schaffens. Die Corona-Krise macht diese Abhängigkeiten sichtbar.

 3.Ausblick auf den Herbst

SB: Kann man den Schaden bereits beziffern,

der durch das Veranstaltungsverbot entstanden

ist?

NK: Gemäss den Rückmeldungen aus dem ersten Monitoring rechnen wir bei den subventionierten Betrieben mit Ausfällen in der Höhe von 3,5 Millionen Franken für die zwei Schliessungsmonate – die freie Szene, Kulturschaffende und die Kreativszene nicht eingerechnet. Die Zahl ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Einen genauen Betrag können wir wohl erst Ende Jahr beziffern. Weiter wissen wir noch nicht, welche langfristigen Auswirkungen die Krise haben wird. Ein zweites Monitoring, das bis Ende Mai ausgewertet wird, wird das Bild sicher etwas schärfen.

 

SB: Welche langfristigen Folgen sind zu

erwarten?

NK: Auf viele Kulturhäuser wirken sich die Einreisebeschränkungen aus. Diese beziehen sich auf Personen und Güter: Betroffen sind zum Beispiel die Gastspieltruppen des Theater Winterthur, die Solist*innen des Musikkollegium, Bands, die in den Clubs auftreten, und der Leihverkehr der Museen. Hinzu kommt, dass die Krise sich in anderen Ländern unterschiedlich schnell entwickelt: Während sie bei uns bereits abflacht, ist die Situation in den USA noch immer akut. Wir rechnen zudem mit erheblichen Auswirkungen der an sich berechtigten Schutzmassnahmen auf die Kultur.

 

SB: Über die Etappe der Lockerungen ab dem 8.

Juni, laut der Theater und Kinos wieder öffnen

können, entscheidet der Bundesrat am 27. Mai.

Noch unklar ist, wann Veranstaltungen mit

unter 1‘000 Personen stattfinden können. Was

bedeutet diese Unsicherheit für die

Kulturhäuser?

NK: Vom Entscheid, ab wann Veranstaltungen wieder stattfinden können, sind alle – die Kulturunternehmen, die einzelnen Kulturschaffenden über die Schauspieler*innen bis hin zu den Kulturvermittler*innen – abhängig. Alle befinden sich im Schwebezustand. Diesen auszuhalten und darin zu agieren, ist wahnsinnig anspruchsvoll. Es muss versucht werden, die Szenarien der nächsten Monate trotz aller Variablen zu antizipieren, es müssen Vorbereitungen getroffen werden im Wissen darum, dass sich die Situation jederzeit wieder ändern kann. Es kommen künstlerische Überlegungen hinzu, zum Beispiel über die Entwicklung von neuen – auch digitalen – Formaten. All diese Entscheide haben nicht zuletzt auch finanzielle Auswirkungen, die abgewogen werden müssen. Klar ist, dass die aktuelle Konzert- und Theatersaison abgebrochen ist und die Festivals abgesagt sind. Alles, was nach den Sommerferien stattfindet, ist zwar in Planung, aber mit vielen Fragezeichen. Denn selbst wenn kleinere Veranstaltungen wieder erlaubt werden, die Unsicherheiten bleiben. Um ein Beispiel zu nennen: Dass die Kulturnacht, an deren einzelnen Veranstaltungen die Leute teilweise auf engstem Raum zusammensitzen, Ende September in diesem gewohnten Rahmen stattfinden kann, halten wir für eher unwahrscheinlich. Die Veranstalter*innen müssen sich also bereits heute kluge Alternativen überlegen.

 

SB: Wie beurteilen Sie die Entwicklung, dass sich

viele kulturelle Angebote nun ins Digitale

verlagern?

NK: Das sind neue Formate, über die man nachdenken muss. Die Corona-Krise macht hoffentlich einerseits deutlich, dass uns der Wegfall von kulturellen Life- und Analog-Erlebnissen an einem Lebensnerv trifft. Andererseits zeigt sie, dass im Winterthurer Kulturleben teilweise Nachholbedarf beim digitalen Auftritt besteht. Nicht zuletzt aus Ressourcengründen wurden diese Kanäle bislang eher für Dienstleistungen und Marketing genutzt und weniger im Hinblick auf ihr künstlerisches Potenzial. Ich denke, wir dürfen gespannt darauf sein, was sich in den nächsten Monaten auf diesem Feld noch entwickeln wird.

 

Das Gespräch mit Nicole Kurmann führte Sandra Biberstein am 7. Mai 2020.

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