Sie wirkt frisch, an diesem sonnigen Mittwochmorgen, obwohl sie nur ein paar Stunden geschlafen hat. Am Abend zuvor bewirteten sie und ihr Team 70 Gäste. «Es wurde spät», sagt Margriet Schnaibel vom Restaurant Taggenberg. Angemeldet waren bis Sonntag nur 45 Personen. Zusätzliche Gläser mussten ausgeliehen und am darauffolgenden Morgen um 9 Uhr bereits wieder zurückgebracht werden.
Nach einem Abstecher nach Zürich in die «Blaue Ente» bewirtet Margriet Schnaibel seit 2012 wieder Gäste im Restaurant ob Wülflingen. 14 Gault Millau-Punkte und der Bib Gourmand zeichnen die Küche aus. Der Bib Gourmand wird für ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis vergeben. Das heisst, dass im Restaurant Taggenberg ein 3-Gänger für weniger als 65 Franken verspeist werden kann. Mit diesen zwei Auszeichnungen ist es das am höchsten dekorierte Restaurant in Winterthur. Trotzdem wirkt alles sehr bodenständig, was hier oben geschieht: Der einstige Bauernhof mit getäferten Wänden besticht neben den Speisen durch den wunderbaren Ausblick über die Stadt. Und Margriet Schnaibel ist auch nicht auf Punkten aus, obwohl sie weiss, dass ihr das natürlich hilft, Gäste auf sich aufmerksam zu machen. Gerade Feinschmecker konsultieren die verschiedenen Gastro-Führer, um neue Restaurants zu entdecken. «Mit diesen Auszeichnungen messen sich vor allem die Köche», meint die gebürtige Holländerin. Sie selbst hält selbst nicht viel von Schnickschnack und hat auch miterlebt wie der ständige Druck, Sterne und Punkte zu halten, zu einem Burnout führen können. Mit mehr als 20 Jahren in der Gastronomie hat die 49-Jährige schon einiges miterlebt und meint: «Die Winterthurerinnen und Winterthurer wollen Qualität, aber nicht unbedingt Auszeichnungen».
Kein Platz für Spitzenküche in Winterthur
Winterthur sei eine familienfreundliche Stadt, die es gern bodenständig mag, meint auch Marc Hegetschweiler vom Bunten Hund in Veltheim. «Ich selbst bestelle auch gerne ein Cordon-Bleu, wenn es auf der Karte steht». Zudem zahle es sich in Winterthur aus, wenn ein Restaurant familienfreundlich und mit dem Velo erreichbar sei.
Trotzdem brodelt es seit kurzer Zeit in der Winterthurer Gastro-Szene: Überraschende Konzepte füllen Gartenwirtschaften und neue Besitzer bringen frischen Wind in alte Gemäuer. Auf dem Lagerplatz wurde gar ein ehemaliger Bahnwaggon in das Bistro «Les Wagons» umfunktioniert. Auch Marc Hegetschweiler hat das Konzept in seinem Restaurant angepasst und bietet Speisen abseits des Mainstreams: «Mit dem Menu Surprise kann unser Koch seine ganze Kreativität ausleben», erklärt Marc Hegetschweiler.
Seit sechs Jahren führt der 37-Jährige das Restaurant «Bunter Hund» in Veltheim, das zuvor als «Grüner Hund» unter Bambel Paganini bekannt wurde – dieser wiederum ist nun im ehemaligen Grenzhof in Tössfeld zu finden und bietet Menüs mit sehr regionalen und saisonalen Bio-Produkten an. Vor etwa einem Jahr übernahm Alex Bindig die Küche in der ehemaligen Quartierbeiz in Veltheim. Der 25-jährige Koch bietet nur noch ein Menu pro Abend an: Drei Gänge, die den Gästen erst vorgestellt werden, wenn sie auf dem Tisch stehen – vegetarisch (Kosten: CHF 45) oder mit Fleisch (CHF 55) – und zum Schluss eine Auswahl von Käse oder ein Dessert (je CHF 10).
Lohndruck im Sternebusiness
Das neue Konzept überzeugt nicht nur das Team im Bunten Hund, auch auf Tripadvisor (eine Online-Bewertungsplattform für Restaurants, Hotels und vieles mehr) konnte das kleine Restaurant den ersten Rang erklimmen. Doch bringen solche Platzierungen etwas? «Es motiviert natürlich, wenn man auf dem ersten Platz ist. Wenn jemand Winterthur besucht und nicht weiss, wo er essen gehen soll, schaut er auf Tripadvisor nach. Das ist heute einfach so», sagt Marc Hegetschweiler. Mit den Gastro-Fibeln sei eine solche Plattform aber nur bedingt vergleichbar.
Um eine Spitzenküche zu unterhalten – ab etwa 14 Gault Millau-Punkten spricht man davon – braucht es einiges: Ein Restaurant muss mehrere Köche beschäftigen, was hohe Lohnkosten mit sich bringt. Die Produkte sollten zudem frisch, wenn möglich Bio-zertifiziert sein oder gleich vom Bauernhof am Stadtrand stammen. All das treibt die Preise in die Höhe und macht das Business mit den Feinschmecker-Lokalen nicht besonders rentabel. Vor ein paar Monaten erschien zu diesem Thema ein Artikel im Magazin des Tagesanzeigers. Titel und zugleich These des Artikels lauteten: «Nur Idioten eröffnen eine Beiz».
9-Gänger im 23. Stock
Trotzdem haben drei junge Männer aus Winterthur diesen Herbst eine Beiz mit Spitzenküche eröffnet: Das «Fritz Lambada» will regionale Küche (inklusive Zutaten, die aus einem Umkreis von rund 50 Kilometer stammen) mit nordischem Flair auftischen. Gerade mal 30 Plätze bietet das Restaurant im roten Turm mit Fernsicht. Der umgebaute Raum ist nüchtern gehalten: Schwarze Wände, Böden, Tische und Bänke sollen Speisen und Ausblick nicht konkurrenzieren, nur der Barbereich mit verspiegelter Decke grenzt sich klar davon ab. Die Küche besteht aus einem schmalen, engen Gang mit Herd, Backofen und mehreren Arbeitsflächen.
Im 23. Stock sitzt Simon Schneeberger an der Bar und trinkt einen Kaffee, wenn nicht gerade sein Telefon klingelt. «Bei uns kann vom Büezer bis zum Banker jeder essen», sagt der Küchenchef und Geschäftsführer des neuen Restaurants. Hauptsächlich kommen vegetarische Zutaten von bekannten Zulieferern und Produzenten auf den Tisch. Wird Fleisch serviert, soll möglichst das ganze Tier – nicht nur dessen edelsten Teile – verarbeitet werden. Begleitet wird die Kost von Naturweinen. Ein Novum für die Schweiz.
Mit gerade mal 30 Plätzen sei man aber darauf angewiesen, dass der ein oder andere 9-Gänger mit Wein- oder Cocktailbegleitung bestellt werde – Kostenpunkt CHF 230. Ein 3-Gänger ist für 70 Franken erhältlich. Der Ausblick über die Stadt bis in die Alpen sowie die neue Raumgestaltung werden sicherlich viele Winterthurerinnen und Winterthurer, zumindest für einen Drink, in den Turm locken. «Wir haben ganz klar eine nationale Ausrichtung», meint der 32-Jährige. Simon Schneeberger arbeitete zuvor in Kopenhagen unter anderem im «Studio» und im «Bror», ist ebenfalls in der Zürcher Gastroszene bekannt und weiss, dass er sich nicht nur auf Winterthur konzentrieren kann, um erfolgreich zu sein.
Den jungen Wilden gehört die Welt
Wer etwas Kreatives und Neues in der Küche umsetzen will, ist normalerweise jung und ungebunden. Das scheint auch in Winterthur nicht anders zu sein. «Die jungen Wilden wollen sich präsentieren und scheuen keine Arbeitsstunden, um der Welt zu zeigen, was sie können», sagt Marc Hegetschweiler. Die Idee sowie die erste Umsetzung eines neuen Menüs entstehen meist neben den sowieso schon speziellen und oft stressigen Arbeitszeiten. «Man muss etwas naiv sein und einfach mal etwas Neues umsetzen», sagt der Geschäftsleiter des Bunten Hund. Er denkt, das Fritz Lambada werde der Szene gut tun, «weil das Team frech genug ist, ihr Ding durchzuziehen».
Eine eigene Familie oder das Alter lassen es irgendwann nicht mehr zu, bis zu 14 Stunden in der Küche zu verbringen. Auch wenn Marc Hegetschweiler im eigenen Restaurant immer noch etwas findet, das verbessert werden kann, ist er zufrieden mit der Situation: «Oft ist unser Restaurant sehr gut besucht.» Trotzdem schaut am Ende des Monats meist nicht viel mehr als eine schwarze Null raus. Aber der junge Vater ist sich bewusst: «Der Gewinn ist die Freiheit sich selbst zu sein».
Selbstverwirklichung statt Geld
«Es gibt durchaus Monate, in denen ich mir weniger auszahle, als meinem Abwascher», sagt Margriet Schnaibel. Obwohl sie als alleinerziehende Mutter hier oben auch für ihre Familie wirtschaften muss, betont sie mehrmals im Gespräch, dass sie mit dem Restaurant Taggenberg längerfristige Pläne verfolge. Die schöne Aussicht und der Taggenberg haben sie denn auch wieder nach Winterthur zurückgeholt.
Denis Ast, der letzte Sternekoch in Winterthur, verliess das «Pearl» im Hotel Krone Ende Mai 2015, um in der Kantine des Tagesanzeigers zu kochen. Auch er soll aufgrund der Rentabilität das Lokal verlassen haben, munkelt man in der Szene. Familiäre Gründe, wie sie in der Medienmitteilung genannt wurden, hatten aber sicherlich auch einen Einfluss, um die unbeliebten Arbeitsstunden in einem Restaurant gegen die angenehmeren einer Kantine auszutauschen.
Zeit für eine Revolution
«Mit dem Fritz möchte ich endlich das machen, was mir gefällt: Die Lorbeeren einstreichen, aber auch geradestehen, wenn etwas nicht funktioniert», sagt Simon Schneeberger. Obwohl es ihn natürlich freuen würde, ausgezeichnet zu werden, will auch er sich nicht aktiv in den Wettbewerb einbringen. «Ich denke der Druck führt dazu, dass du nicht mehr gleich kochst», sagt er und fügt an, dass Sterne oder Punkte zu bekommen, das eine sei, aber «sie zu halten oder die Küche zu verbessern, ist die eigentliche Herausforderung.» Die neuen Geschäftsführer im Fritz Lambada werden machen, was ihnen gefällt und denken, dass das auch anderen Leuten gefallen wird. «Wir wollen die Szene nicht revolutionieren oder umkrempeln», so der Küchenchef.
Dass eine kleine Revolution in der Gastronomieszene möglich ist, bewies erst kürzlich ein einzelner Koch in Zwolle, einem Städtchen in den Niederlanden mit rund 120‘000 Einwohnern. Marc Hegetschweiler war gerade dort und hörte, dass der Koch Jonnie Boer, das gastronomische Niveau der Stadt umkrempeln konnte. Das wünscht sich der Geschäftsführer des Bunten Hunds auch für Winterthur und glaubt, dass es durchaus Anzeichen dafür gibt und die Sterne gut stehen: «Wir haben die höchste Sterne-Dichte in der Schweiz. Eigentlich sollte Winterthur als sechstgrösste Stadt auch zwei Sterneköche beheimaten.» Aber zuerst werde der FCW wieder in der Super-League spielen, so die Vorhersage von Marc Hegetschweiler.
Kochen unter Druck
Im Wesentlichen gibt es zwei wichtige Auszeichnungen in der Gastronomie: Die Gault-Millau-Punkte und die Michelin Sterne. Im Jahr 1900 erschien der Guide Michelin, ein Hotel- und Reiseführer, zum ersten Mal. Nachdem sich der Guide Michelin zuerst auf Wegbeschreibungen konzentrierte, erweiterte er 1923 seinen Service mit Restaurantempfehlungen. Drei Jahres später führte der Verlag der Gastro-Fibel zum ersten Mal ein Punktesystem, die Michelin-Sterne, ein. Die Auszeichnung ist relativ einfach gegliedert:
– Ein Stern: «Eine sehr gute Küche, welche die Beachtung des Lesers verdient»
– Zwei Sterne: «Eine hervorragende Küche – verdient einen Umweg»
– Drei Sterne: «Eine der besten Küchen – verdient eine Reise»
In der Schweiz gibt es gerade mal zwei Köche, die mit drei Punkten ausgezeichnet sind: Peter Knogel vom Cheval Blanc in Basel und Andreas Caminada im Schloss Schauenstein in Fürstenau. Der dritte Koch, der mit seiner Küche drei Punkte erkochen konnte, Benoît Violier, nahm sich im Januar dieses Jahres das Leben.
Von Gault Millau gibt es Auszeichnungen von 12 bis 20 Punkten. Allerdings sind bereits 19 Punkte die eigentlich höchste Auszeichnung, die ein Koch erhalten kann. Zumindest in der Schweiz erhielt noch niemand das Maximum von 20 Punkten. Zwölf Punkte stehen allerdings auch schon für eine gute Küche. Oder wie es der Guide selbst beschreibt «Herkömmliche, gute Küche ohne besondere Ambitionen».