Die Musikfestwochen sind ein Festival, mit dem sich die Einwohnerinnen und Einwohner Winterthurs stark identifizieren. Ich möchte euch deshalb mit der Kritik, die jedes Jahr auf der Gasse zu hören ist, konfrontieren. Oft heisst es: «Es hat zu viele Leute und zu viel Geschwätz.» Seid ihr Opfer des eigenen Erfolgs?
Matthias Schlemmermeyer: Ich nehme das nicht ganz so extrem wahr. Es wird viel geschwätzt. Aber dass diejenigen, die hinten bei den Essensständen stehen, durch Gespräche gestört werden, ist klar. Das ist bei jedem Konzert so: Je weiter hinten du stehst, desto weniger bekommst du mit, was auf der Bühne passiert. Die Besucherzahl hat einen Einfluss aufs Booking. Leise Bands funktionieren nicht. Vor allem nicht am Eröffnungsabend, da die Vorfreude gross ist und alle kommen. Gerade dann braucht es eher eine unterhaltsame Band. Seit das Zelt nicht mehr auf der Steinberggasse steht, ist die Situation besser. Vorher war ein viel grösserer Teil des Areals eine «Geschwätz-Zone», nun verteilt sich das Publikum besser auf die ganze Gasse.
Laura Bösiger: Ich sehe es als Stärke, dass die Musikfestwochen mit der Musik einen kulturellen Inhalt bieten, aber auch als sozialer Treffpunkt in Winterthur funktionieren.
Während den zwölf Tagen sind insgesamt 55'000 Besucherinnen und Besucher in der Altstadt. Können die Musikfestwochen noch grösser werden? Oder ist das Limit erreicht?
MS: Wir sind seit drei oder vier Jahren auf diesem Niveau und wollen und können nicht mehr grösser werden. Bisher kamen wir erst einmal – beim Konzert von Stiller Haas – an die Kapazitätsgrenze und mussten das Gelände schliessen.
LB: Winterthur hat viel mehr Einwohner als noch vor 20 Jahren. Entsprechend besuchen auch potentiell mehr Menschen den Anlass. Wir können das Programm nicht mehr gleich gestalten wie noch vor 15 Jahren.
MS: Das ist Segen und Fluch zugleich. Das Publikum möchte auch im kostenlosen Programm grosse Namen sehen. Ein Schweizer Act wie Lo&Leduc hätten wir vor zwei Jahren gut machen können, allerdings wären dann zu viele gekommen, weil die Band damals der Act des Jahres war. Es ist eine schwierige Gratwanderung, ein Programm zusammenzustellen, das grosse Namen zu bieten hat, aber doch nicht so viele Leute anzieht, dass wir die Gasse zumachen müssen.
Wie positioniert ihr euch als Festival? Wollt ihr ein Entdeckerfestival wie das «One Of A Million» in Baden werden?
MS: Nein. Gerade für das One Of A Million interessiert sich eher eine kleine, überschaubare Anzahl von homogenen Besucherinnen und Besuchern. Das finde ich als Programmmacher weniger spannend.
LB: Wir haben den Anspruch, ein Programm für die Besucherinnen und Besucher der Musikfestwochen zu machen. Es soll ein Programm sein, das für alle etwas dabei hat und dennoch eigenständig ist. Bei kaum einem anderen Festival wird eine so breite Zielgruppe von 15- bis 60-Jährigen angesprochen wie bei den Musikfestwochen.
Was sagt ihr zu den Vorwürfen «Das Line-Up war auch schon besser» oder «Ich kenne ausser den Haupt-Acts keine der Bands»?
MS: Vor zehn Jahren lautete die Kritik genau gleich. Das Programm wird oft im Nachhinein glorifiziert, wenn sich der Bekanntheitsgrad einer Band weiterentwickelt hat. Nicht viele kannten Milky Chance oder AnnenMayKantereit als sie an den Musikfestwochen ihre ersten Schweizer Konzerte gespielt haben.
Mit welchen Schwierigkeiten seid ihr denn beim Zusammenstellen des Programms konfrontiert?
MS: Die Konkurrenz ist sicher ein Problem. Das Zürich Openair, das ein ähnliches Zielpublikum hat wie wir während dem Hauptprogramm, findet dieses Jahr zeitgleich statt. Das schaukelt die Gagen hoch. Und seitdem die grossen Bands Shows im Hallenstadion oder im Letzigrund-Stadion spielen, fehlen Festivals wie dem St. Gallen Openair oder dem Gurten die Headliner. Deshalb buchen sie nun «unsere» Headliner, während wir den kleineren Festivals die Bands wegnehmen. Ein Kreislauf mit wenigen Gewinnern.
LB: Beim Programm sind wir durch zwei Punkte eingeschränkt: Erstens haben in der Steinberggasse nur eine bestimmte Anzahl Personen Platz. Deshalb können wir uns gar nicht mit den grossen Openairs vergleichen. Und zweitens bieten wir an neun von zwölf Tagen ein kostenloses Programm an. Das ist finanziell eine andere Ausgangslage.
MS: Ein weiterer Punkt ist, dass unsere Bühne für viele der heutigen Produktionen zu klein ist. Bands wie Die Antwoord und Deichkind könnten allein aus technischen Gründen nicht bei uns spielen.
Auf was achtet ihr bei den Bands: Live-Qualität? Oder Youtube-Klicks?
MS: Beim kostenlosen Programm ist für mich klar die Live-Qualität das wichtigste Kriterium. Zudem spielt die Vielfalt eine grosse Rolle: Von jedem Genre soll eine Band vertreten sein. Die Social-Media-Daten sind mir in diesem Kontext relativ egal. Beim Hauptprogramm hingegen sollten die Bands kommerziell funktionieren, um das kostenlose Programm querfinanzieren zu können.
Einige der Bands im Hauptprogramm haben vor sechs (Irie Revolté und Frank Turner), vier (Band of Skulls) beziehungsweise 25 Jahren (Pennywise) in Winterthur gespielt. Weshalb holt ihr Bands, die schon einmal hier waren?
MS: Bei allen Bands liegt ein langer Zeitraum dazwischen, seit sie das letzte Mal in Winterthur spielten. Und bei jeder Band gibt es einen Grund, beispielsweise ein neues Album, sie wieder zu buchen. Generell ist es uns aber ein Anliegen, möglichst wenig Wiederholungen im Programm zu bieten.
«Die Gasse ist völlig verbaut» oder «Der Holzbau versperrt die Sicht», sagen Besucherinnen und Besucher, wenn sie dicht gedrängt in der Gasse stehen. Ist der Holzbau tatsächlich unverzichtbar?
LB: Ganz frei war die Gasse nie. Auch in den Anfangszeiten nicht. Die Leute wollen auf der Gasse etwas trinken und wir sind auf die Gastroeinnahmen angewiesen. Es ist aber nicht der Holzbau an sich, der unverzichtbar ist, sondern das Hospitality-Konzept. Wir brauchen Sponsoren und Partner, die uns Material für die Infrastruktur zur Verfügung stellen. Und anstatt das Gelände mit Branding, also Namen, zuzupflastern, bieten wir eine Gegenleistung. Zudem wird die Forderung immer lauter, dass sich Kultur über private Sponsoren finanzieren soll. Die Musikfestwochen haben früh begonnen, ein solches Konzept umzusetzen. Nun haben wir ein paar Jahre lang Erfahrungen gesammelt und können da und dort Anpassungen vornehmen.
Ihr habt die finanzielle Ausgangslage angesprochen. Wie sieht diese aus?
LB: Das Budget für das gesamte Festival liegt bei zwei Millionen. Davon werden für die Gagen (inklusive dem kostenlosen Programm) etwas über eine halbe Million benötigt. Der grösste Teil dieser Kosten wird durch die Gastroeinnahmen gedeckt. Das heisst, mit jedem Bier finanziert man direkt die Band, die gerade auf der Bühne steht. Über Sponsoring und Partner kommen 200'000 bis 300'000 Franken zusammen. Einen nicht unwesentlichen Teil deckt die Kollekte. Die Subventionen der Stadt machen mit 200'000 Franken zehn Prozent aus. Die Freiwilligenarbeit hätte – wenn man eine Vollkostenrechnung machen würde – einen Wert von 500'000 Franken oder mehr.
Könntet ihr auf die Ticketeinnahmen der Hauptkonzerte verzichten?
LB: Es ist eine Frage des Risikos. Eigentlich nicht. Mit den Hauptkonzerten haben wir die Chance, ein tolles Gratis-Programm zu finanzieren, aber zugleich ist das Risiko auch gross, viel Geld zu verlieren.
MS: Das Budget ist so angelegt, dass ein Ertrag aus den Ticketeinnahmen der Hauptkonzerte generiert werden soll. Damit wird das gesamte Budget entlastet, falls es während dem kostenlosen Programm regnet und weniger Leute kommen als erwartet. Allerdings wird es immer schwieriger, mit den Hauptkonzerten einen Ertrag zu erzielen, der das gesamte Programm querfinanzieren kann. 1000 Tickets bei 69 Franken mehr oder weniger zu verkaufen, macht finanziell einen grossen Unterschied aus.
Zusammen mit Grégoire Guisolan hast du, Laura, im letzten Herbst die Geschäftsleitung übernommen. Ihr habt ein neues Team und viele neue Ideen. Was wird dieses Jahr anders?
LB: Die Aufgabe des neuen Teams ist es, zu schauen, dass die Musikfestwochen auch im Jahr 2020 noch am Puls der Zeit sind. Neu ist, dass wir dieses Jahr noch mehr Bands aus der Region eine Plattform bieten können. Die Brunnenbühne, die wir letztes Jahr mit kurzen Überraschungs-Acts bespielt haben, ist dieses Jahr unter dem Titel «Startrampe» im Programm.
MS: Die Startrampe zeigt auch, wie wir Partner ins Festival einbinden möchten. Die Bühne wird von Migros-Kulturprozent unterstützt. Die Bands spielen zwischen den grossen Bands 15 Minuten in einer vollen Steinberggasse.
LB: Mit der Palettenbühnen für Strassenmusik präsentieren wir im persönlichen Rahmen noch etwas mehr Winterthur. Und es gibt neu einen Helfertreff auf dem Gelände: Für die 650 Freiwilligen aus der Umgebung bauen wir einen eigenen Bereich auf, in dem sie essen und sich aufhalten können. So ist es möglich, den persönlichen Kontakt zu pflegen. Denn ohne die Helferinnen und Helfer könnten wir das Festival nicht machen.
Auf was freut ihr euch?
MS: Ich freue mich auf das Kribbeln im Bauch und die spezielle Stimmung, wenn es los geht.
LB: Ich freue mich auf die Momente, in denen ich jemanden auf der Gasse antreffe und für einen Augenblick vergessen kann, dass ich die ganze Verantwortung habe. Und auf die Band A-WA.