Sie kamen, blieben und filmten

Seit dem 1. Oktober erkunden fünf afrikanische Filmemacher*innen Winterthur mit ihren Kameras. Fünf Filme, fünf Wochen: Das Resultat dieses Projekts ist an den Kurzfilmtagen zu sehen.

Simplice hat einen TGV im Kopf. Er sitzt am Tisch im Jugendkafi «stadtmuur: Schlecht geschlafen hat er die letzte Nacht, nachdenken musste er. Angehalten hat der TGV nämlich nicht, sondern ist in Höchstgeschwindigkeit stets weitergefahren. Simplice Ganou ist Filmemacher, Drehbuchautor und Produzent aus Burkina Faso. Seit dem 1. Oktober weilt er – wie vier andere Filmemacher*innen aus verschiedenen Ländern Afrikas – in Winterthur. Ihr Auftrag: innerhalb von fünf Wochen einen Film zu drehen. «To come, to stay, to leave» ist das Thema des diesjährigen Kurzdokumentarfilmprojekts, einer Zusammenarbeit zwischen den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, der Langfilm Filmproduktion und der Studienrichtung Video der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Bereits zum dritten Mal wird das Projekt nach 2011 und 2015 durchgeführt – die daraus resultierenden Kurzfilme feiern am Samstag, 9. November Premiere an den Internationalen Kurzfilmtagen. Im Anschluss werden sie an weiteren internationalen Filmfestivals gezeigt. Was die Regisseur*innen in der knappen Zeit und aus der thematischen Vorgabe machen, ist ihnen überlassen. Zur Verfügung stehen ihnen allerlei Filmequipment und je ein motiviertes Team aus Filmstudierenden: Tontechniker*innen, Kameraleute und Editor*innen.

 

Die Suche nach Begegnungen

 

Nach Kaffee, Austausch und einer selbstgedrehten Zigarette bricht Simplice mit seinem Team auf. Im Equipment-Raum in der Alten Kaserne soll die erste Szene gedreht werden: Simplice, wie er gedankenverloren und doch aufmerksam Kameras, Mikrofone und Objektive betrachtet. «Unglaublich, das viele Material», murmelt er, bleibt kurz stehen, nimmt eine Kamera und dreht sie in der Hand.

«A Burkina, je commence la journée avec la parole», meint Simplice, während sich Kameramann und Tontechnikerin einrichten. Hier in Winterthur sei es indes schwierig, mit jemandem ins Gespräch zu kommen – und so hat sich der Filmemacher kurzerhand selbst ins Zentrum seines Kurzfilmes gestellt: Er wandelt durch die Strassen und Gassen der Stadt, immer auf der Suche nach Begegnungen und Austausch. Zwar habe ihm das Filmschaffen viele Türen geöffnet in die Kulturen anderer Länder, doch leben könnte er in Europa nicht, meint er – und dann geht es los, das Team ist ready.

Draussen auf der Strasse werden die ersten Drehplätze besprochen. Einem Skript folgt das Team nicht, sondern eher einer vagen Idee – der Rest ist Spontaneität. Die braucht das Team: Nachdem es nach langem Suchen endlich den richtigen Ort für die Totale der zweiten Szene gefunden hat, parkiert prompt ein kleiner Lieferwagen der Post davor. Fünf Minuten, meint der Angestellte und saust weg. Das bedeutet: Warten – und Zigarettenpause. Irgendwann fährt der Wagen wieder ab, doch keine drei Sekunden später installiert sich ein Zeugen-Jehovas-Duo an exakt derselben Stelle: gratis Bibelkurs und Termine nach Wunsch. Die beiden lassen sich dazu überreden, ihren Stand etwas weiter weg zu rücken, damit der Ort frei wird für die Szene. Die Stadt ist Inspiration und Schauplatz zugleich, Simplice bespricht mit seinem Team Perspektiven und Handlungen – und dann wird das Material gedreht.

 

Von Industrie- zu Kulturorten

 

Kraftfeld, Donnerstagabend. Das Haus ist voll. Mittendrin filmt das Team rund um Hajooj Kuka die Plattentaufe der Winterthurer Band No Me Coman. Der sudanesische Filmemacher interessiert sich für ihren Auftritt, fast noch mehr geht es ihm aber um die Location – das ehemalige Arbeiterareal, das sich in einen Kulturort gewandelt hat. «Jede Community braucht solche Orte, an der sie sich treffen kann», erklärt der Regisseur. Ohne diese Orte könne Gemeinschaft nicht stattfinden – ausser vielleicht im Internet, aber das sei eine andere Geschichte. Sein Fokus liegt auf der alternativen Szene, deren «Spaces» er untersuchen will. In Winterthur arbeitet er jedoch unter nicht ganz einfachen Bedingungen:

«Normalerweise verbringe ich Jahre an den Orten, an denen ich meine Filme drehe. Hier muss alles innerhalb eines Monats passieren.» Wo andernorts die Zeit, die man mit den Leuten verbringe, Barrieren abzubauen vermag, blieben diese hier eher bestehen. Ebenfalls sei die Sprachbarriere vorhanden, nicht nur, wenn es darum gehe, mit Menschen aus verschiedenen Gruppierungen zu sprechen. Auch sonst sind die Informationen limitierter. Zwar habe er zu Recherchezwecken «Winterthur» gegoogelt, erzählt Hajooj. Viele für ihn interessante Artikel waren meist aber nur auf Deutsch online, deshalb blieb die Stadt vor seiner Ankunft ein unbekannter Fleck, den es zu entdecken galt. Innert kürzester Zeit hat sich der Filmschaffende ein Netzwerk aufgebaut – und gräbt sich nun durch die verschiedensten Szenen. Das Sulzer-Areal steht auf seiner Liste, ebenso einige Besitztümer aus dem Stefanini-Clan. Dazu gesellen sich rund sieben besetzte Häuser der Stadt.

Gerade letztere interessieren ihn besonders: Gerade weil sie – zumindest eine gewisse Zeit lang – ohne jedwedes Zutun der Stadt funktionieren und die Bewohner*innen somit das tun können, was ihnen zusagt. Vor ein paar Tagen war er an einem Punkkonzert in einem dieser Häuser. Irgendwann habe da jemand ziemlich viel Bier ausgeleert – und sofort war jemand zur Stelle, um zu putzen. «Die Leute kümmern sich tatsächlich um ihren Raum. Es geht ihnen nicht ums Geld, sondern einzig und allein darum, in diesem Rahmen ihre Ideale verwirklichen zu können.» Auch wenn sich diese offenen «Spaces», wie Hajooj sie nennt, finden liessen, hätte er mehr solche erwartet. Die Bibliothek sei ein solcher Ort. Ansonsten, sagt er, sei das Spektrum aber eher begrenzt. 

 

 

Lieber nicht vor der Kamera

 

Vorerst filmt Hajooj mit seinem Team nur Orte, was mit der Drehbewilligung der Stadt gut funktioniert. Bald stehen Interviews auf dem Drehplan – wenn irgendwie möglich auch mit Menschen, die aufgrund ihrer politischen oder ökonomischen Ansichten und mit ihren Handlungen das Bild der Stadt beeinflussen. Wer vor der Kamera reden wird, weiss er noch nicht. «Ich bin es gewohnt, Filme in Diktaturen zu drehen», sagt der Filmemacher. Dabei müsse man ja nicht mit dem Diktator über die Diktatur sprechen, um zu erfahren, was die Diktatur sei; schliesslich gäbe es genug Menschen, die in dieser Diktatur leben würden.

Doch die Interviews mit den Bewohner*innen der Spaces, die ihn interessieren, gestalten sich teilweise schwieriger als erwartet. «Ich habe bis anhin mit vielen Leuten gesprochen. Ohne die Kamera waren es gute Gespräche», sagt Hajooj. Sobald es darum ging, vor der Kamera darüber zu sprechen, seien einige wieder «zurückgekrebst» – zum Beispiel aus Angst vor steigenden Mieten. In Winterthur wohnen einige tausend Menschen in den unrenovierten Liegenschaften des umstrittenen (unterdessen verstorbenen) Immobilienbesitzers Bruno Stefanini. Die Ungewissheit darüber, wie die Reaktionen der zuständigen Liegenschaftsverwaltung ausfallen könnten, halte sie von Aussagen zurück.

 

Community statt Individuum

 

Mit Diskussionen um hohe Mieten kommt Hajooj in seiner Heimat Sudan selten in Berührung. «Ich kann im Sudan während Monaten ohne oder mit fast gar keinem Geld leben», erzählt er. So lange genug Geld in der Community da sei, sei alles okay. Auch lebten die Menschen in den meisten Ländern kaum zur Miete, sondern besässen eigene Häuser: «Hier scheint das Thema stets brisant zu sein.» Und gleichzeitig hindere es die Menschen daran, ihren Leidenschaften nachzugehen. Sie müssen arbeiten, um die Miete bezahlen zu können. «Wenn ich Bürgermeister wäre, würde ich die Mieten senken, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, ihre Zeit in Kultur zu investieren», sagt er – und um damit andere, weniger individuelle, sondern eher gemeinschaftliche Prioritäten zu setzen.

Noch hat Hajooj viel Arbeit vor sich. Sobald genug Material abgedreht ist, gibt es noch weitere Entscheidungen zu treffen: Werden die Interviews gezeigt? Gibt es Voice Overs? Oder gibt es andere Wege, Visuals und Stories zu verbinden? Entscheidungen, die er auch gemeinsam mit seinem Team treffen will – und dabei auf ihre Erfahrungen zählt.

Während Hajooj die Interviews aufgleist, ist Simplice auf den Strassen Winterthurs unterwegs. Nachdem er sich am Vortag als Weihnachtsmann verkleidet hat, schlendert er heute mit riesengrossen rosaroten Hasenohren über den Flohmarkt in der Steinberggasse. Mal schauen, wer ihn anspricht – vielleicht wird der Film ja am Ende ganz anders sein als geplant.

 

 

 

Internationale Kurzfilmtage

1. bis 10. November 2019

Die Premiere der 5x5x5 Kurzfilme findet am 9. November um 17 Uhr im Theater Winterthur statt.

www.kurzfilmtage.ch

 

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