Warum tue ich mir das an?

Warum tue ich mir das an?

Ich hatte mich immer gefragt, welche Art Mensch wohl auf die Idee kommt, Schiri zu werden. Bis ich selbst auf diese Idee kam. Ein Bericht vom Spiel FC Winterthur 2 gegen FC Effretikon 2.

Warum tue ich mir das an? Das frage ich mich, als ich die Sportanlage Eselriet in Effretikon betrete. In einer Stunde werde ich das Spiel zwischen dem FC Winterthur 2 und dem FC Effretikon 2 anpfeifen, als Schiedsrichter in der vierten Liga, Region Winterthur. Die Sportanlage Eselriet ist modern, die Garderoben sind sauber. In den unteren Ligen ist das keine Selbstverständlichkeit. Die Mittagssonne brennt ohne Gnade vom Himmel. Kaum jemand ist zu sehen, nicht einmal ein Windstoss stört die Sportplatz-Idylle.

Und dennoch stehe ich bereits jetzt unter Stress. Das schlimmste an der Zeit vor dem Spiel ist die Ungewissheit. Ich kann unmöglich ahnen, ob in einer Stunde ein gepflegtes Fussballspiel beginnt oder ob ich in eine Rasenschlacht gerate. Und egal, was auf mich zukommt, es ist meine Verantwortung, die Ordnung zu wahren.

22 Männer werden sich heute einen Wettbewerb liefern, der sie körperlich und mental an ihre Grenzen bringt. Für 90 Minuten gibt es nichts anderes auf der Welt, als den Sieg. Die emotionale Anspannung in der Luft ist beinahe greifbar. Und dank der unberechenbaren Natur des Sports kann sich dieses Potential jeden Moment entladen. Vor einem Publikum, das so manchen Spieler an Emotionalität noch übertrifft.

Und mittendrin stehe ich. Meine Aufgabe ist es, diese geballte Energie zu bändigen, sie in einem sicheren, zivilisierten Rahmen zu behalten. Ich stelle mir jedes Wochenende dieselbe Frage: Warum tue ich mir das an?

 

Eine gewisse Glaubwürdigkeit

Das Spiel beginnt. Auch wenn die Teams nicht die ersten Mannschaften ihrer Vereine sind, ist das Niveau durchaus hoch. Beide spielen diszipliniert und fair, machen wenige Fehler und begehen kaum Fouls. Mir kommt das entgegen, denn so habe auch ich Zeit, ins Spiel zu finden. Doch zurücklehnen kann ich mich nicht, denn das Spiel ist schnell. Sobald der FC Effretikon den Ball verliert, hat der FC Winterthur innert Sekunden einen gefährlichen Angriff aufgebaut. Und auch der FC Effretikon bestraft jeden Fehler der Winterthurer sofort.

Dieses Tempo muss ich als Schiedsrichter mithalten können, sowohl im Kopf wie auch in den Beinen. Ein Zögern zu viel kann bedeuten, dass ich völlig falsch stehe und mich in eine schlechte Position bringe. Und der Blickwinkel entscheidet häufig zwischen korrekter Entscheidung und katastrophalem Fehler.

Solche Fehler unterlaufen mir in der ersten Halbzeit zum Glück keine. Doch als ein Angreifer des FCW sich recht ruppig an seinem Gegenspieler vorbeikämpft, gerate ich in eine unbequeme Situation. Ich konnte zwar keinen klaren Tritt oder Schlag erkennen, aber dennoch schien mir der Spieler übertrieben hart zu spielen.

Das Ganze geschieht innert Sekundenbruchteilen. Den Luxus einer Wiederholung habe ich nicht, und mir bleibt höchstens eine Sekunde, um eine Entscheidung zu treffen. Ich pfeife, und entscheide auf Freistoss für Effretikon. Prompt ernte ich einige heftige Reklamationen. Der Angreifer – einen Kopf grösser und 10 Jahre älter als ich – baut sich vor mir auf, und verlangt eine Erklärung. Im Jugendfussball ist es da eindeutig einfacher, sich Respekt zu verschaffen. Doch am Ende akzeptiert auch er meine Entscheidung. Weil ich bisher meist richtig gestanden habe und seriös kommuniziere, habe ich mir eine gewisse Glaubwürdigkeit verschaffen können. Kurz darauf pfeife ich zur Halbzeitpause.

 

Wenn ein Spiel bachab geht

Jene Glaubwürdigkeit bei den Spielern sinkt jedoch mit jeder Fehlentscheidung, die sich Schiedsrichter*innen erlauben. Lässt man sich zu oft auf dem falschen Fuss erwischen, so ist die Geduld der Anwesenden bald aufgebraucht. Fussballerinnen legen hier erfahrungsgemäss eine viel entspanntere Haltung an den Tag als ihre männlichen Kollegen.

Je mehr unklare Entscheidungen Unparteiische treffen, desto aggressiver testen die Spieler, wie weit sie gehen können. Sowohl verbal wie auch physisch. Und je aggressiver die Stimmung wird, desto zögerlicher und unsicherer werde ich wiederum als Schiedsrichter. Die Selbstzweifel wachsen, die Konzentration nimmt ab. Wer einmal in diesem Teufelskreis gefangen ist, dem entgleitet schnell die Kontrolle über das Spiel. Und dann ist man verloren.

 

Ich kenne kaum einen grösseren Stress, als wenn ein Spiel bachab geht. Ich erinnere mich an mein erstes Katastrophen-Spiel. Es war in Wiesendangen – wie heute auch in brütender Hitze. Ich reihte Fehler an Fehler, und auch die Spieler waren von der ersten Minute an mehr auf Kampf aus als auf ein gepflegtes Spiel.

Körperlich war ich am Limit, alles schmerzte. Trotz Seitenstechen, Krämpfen und völliger Erschöpfung musste ich aber stets eine selbstbewusste Körperhaltung wahren. Trotz Wut, Angst und Atemnot musste ich laut und deutlich sprechen. Gleichzeitig musste ich meine Augen und Ohren offen halten, um allfällige neue Regelverstösse nicht zu verpassen. All das, während ich den wüsten Beschimpfungen von 22 Spielern und vom Publikum standhalten musste. Mit zittrigen Fingern alles Wichtige aufschreiben und die Zeit im Blick behalten – das sollte ich nebenbei ebenfalls.

 

In den Schlussminuten wurde mir das alles zu viel. Zwei Spieler stiessen zusammen, und bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich von einer Meute wütender Männer umkreist. Die ganze Szenerie schien an mir vorbeizuziehen, und ich starrte nur noch stumm ins Leere. Ich pfiff das Spiel einfach ab und verliess den Platz. Das Ganze endete in einem Handgemenge vor den Garderoben.

Warum tue ich mir das an? Nie hallte diese Frage lauter in meinem Kopf nach als nach jenem Spiel. So einsam und machtlos hatte ich mich noch nie gefühlt. Und mir war klar: Das Ganze war im Chaos versunken, weil ich mich hatte einschüchtern lassen. Fehler darf es geben. Angst nicht.

Ich wusste, dass ich hart an meiner körperlichen und mentalen Verfassung zu arbeiten hatte. Ansonsten würden solche Katastrophen immer wieder passieren. Und tatsächlich besserten sich meine Leistungen bald merklich. Die Spiele wurden ruhiger, die Lunge hielt besser mit, und meine Konzentration nahm zu.

Auch im Alltag bemerkte ich, wie ich mir eine dickere Haut zugelegt hatte. Ich hatte immer dazu tendiert, Kritik recht persönlich zu nehmen. Und kaum irgendwo schlägt dir die Kritik so ungefiltert, so unbarmherzig entgegen wie bei einem Einsatz als Schiedsrichter. Es dauerte nicht lange, und ich war in der Lage, auch vernichtende Urteile über meine Arbeit mit einem Lachen entgegenzunehmen.

 

Leiten, nicht pfeifen!

Zurück nach Effretikon, wo ich eben die zweite Halbzeit anpfeife. Ich suche die Zuschauermenge nach bekannten Gesichtern ab. Zweimal im Jahr wird meine Leistung vom Fussballverband bewertet. Diese Inspektionen sind zwar unangemeldet, aber dennoch sehr fair. Es ist eher ein Coaching als ein Urteil. Heute hätte ich nichts dagegen, inspiziert zu werden, denn die erste Halbzeit war sehr gut gelaufen. Doch keiner der Anwesenden kommt mir bekannt vor. Also pfeife ich an.

Assistent*innen habe ich in der vierten Liga keine, an die ich ein bisschen Verantwortung abgeben könnte. Bei gewissen Aktionen müsste ich aber an mehreren Orten gleichzeitig sein, um alles sehen zu können. In solchen Fällen bleibt mir nichts anderes übrig, als meinem Bauchgefühl zu folgen.

Dreimal in Folge entscheide ich in solch komplizierten Situationen für den FC Effretikon. Der FC Winterthur tut mir dabei ein wenig leid, und ich verstehe den Frust der Spieler. Doch es war nicht meine Absicht gewesen. Ich versuche, jede Situation einzeln zu bewerten, und für parteiische Gedanken geht es in solchen Momenten sowieso viel zu schnell.

Der FC Winterthur gibt seine Antwort auf dem Platz. Mit einem wunderschönen Fernschuss gehen sie in Führung. Diese verteidigen die Winterthurer bis zum Schluss routiniert und gewinnen mit 1:0.

Der Match war einer der ruhigsten, den ich in der vierten Liga je hatte. Zum einen, weil beide Teams extrem respektvoll und fair spielten, zum anderen aber auch, weil ich einen wirklich guten Tag erwischt hatte. Früher war mein Ziel gewesen, als Schiri möglichst nicht aufzufallen. Mittlerweile weiss ich, dass das nicht ausreicht. Ich muss ein Spiel leiten, anstatt es nur zu pfeifen. Heute gelang es mir auch regelmässig, in gefährlichen Momenten die richtigen Worte zu finden. So bekommen die Spieler beider Mannschaften das Gefühl, dass mir das Spiel am Herzen liegt und sie sich auf mich verlassen können. Als Schiedsrichter bin ich dafür da, die Spieler und das Spiel zu schützen – so lautet die erste Regel der Schiedsrichter*innen -Ausbildung.

Warum tue ich mir das an? Als ich zurück in der Kabine bin, weiss ich es wieder. Ich tue es aus Liebe zum Fussball und zu allen, die ihn auch lieben. Ich tue es, um 22 Menschen die Möglichkeit zu geben, 90 Minuten die Welt zu vergessen und sich selbst zu sein. Ich tue es, weil fast jede Stresssituation im Alltag winzig ist im Vergleich. Ich tue es für meine Lunge. Ich tue es, weil mir Fairness und Chancengleichheit wichtig sind. Ich tue es, um Verantwortung zu übernehmen und meine Kritikfähigkeit zu stärken. Und ich tue es nicht zuletzt, weil kein anderer es tun möchte.

 

Wo bleibt der Dialog?
Wo bleibt der Dialog?
Hintergrund

Um mit der lebendigen Kulturszene in Winterthur Schritt zu halten, muss die Stadtverwaltung sich mit dieser zumindest alle paar Jahre einmal aktiv auseinandersetzen. Doch wie könnte eine solche…

Warum die Kulturstadt um ihre Zukunft bangt
Warum die Kulturstadt um ihre Zukunft bangt
Hintergrund

Zahlreiche Institutionen und engagierte Menschen sorgen das ganze Jahr über für ein abwechslungsreiches kulturelles Angebot in Winterthur. Aktuell wird ausgehandelt, wie die Stadt dieses Angebot in…

Zwischen Zerfall und Pragmatismus
Zwischen Zerfall und Pragmatismus
Hintergrund

Wer der Zürcherstrasse entlangfährt, kommt nicht darum herum, den Blick über das Zentrum Töss schweifen zu lassen. Seit über 50 Jahren prägt der brutalistische Bau mit seinen markanten Formen und der…

Schachzüge und Tacklings
Schachzüge und Tacklings
Hintergrund

Football assoziiert man hierzulande in erster Linie mit der NFL, der National Football League der USA. Doch auch in der Schweiz ist die Sportart verbreiteter, als man meinen würde. Die Winterthur…

Kopfstand auf zwei Rädern
Kopfstand auf zwei Rädern
Hintergrund

Gleichgewicht, Konzentration, Kraft: Auf einem Kunstrad braucht man ein ganzes Bündel an Skills. Velofahren an sich kann für manche schon eine Herausforderung sein – und dann noch auf dem Lenker…