Die Schweiz – Sehnsuchtsort oder Schurkenstaat?

Wie entstand die politische Kultur der Schweiz und wie kann man diese definieren? Ein Gespräch mit dem Historiker Jakob Tanner anlässlich des 1. Augusts über Stereotypen, Tell und die EU.

Adrian Hohler: Herr Tanner, was hat es

mit dem 1. August auf sich?

Jakob Tanner: Der 1. August als Nationalfeiertag wurde erst 1891 erfunden. Daran lässt sich viel Spannendes festmachen. Es gab seit dem 15. Jahrhundert ein mythologisches Narrativ, wie die Eidgenossenschaft entstanden sei. Zentral war der Rütlischwur, mit dem sich die Kantone Uri, Nid- und Obwalden gegenseitige Unterstützung gegen die Habsburger versprachen. Im 16. Jahrhundert wurde der Schwur auf den 8. November 1307 datiert. Das fiktive Ereignis wurde gerade vom vaterländischen «Grütliverein» gefeiert, in dem sich seit 1838 Arbeiter organisierten. Als 1891 dann ein Bundesbrief zum Ausgangspunkt der Nationsbildung aufgewertet wurde, sorgte dies für Konflikt. Die Linken hielten an den Novemberfeiern fest, während die Bürgerlichen die Urkunde höher gewichteten. Damals festigte sich ein gesamtschweizerisches Geschichtsbewusstsein, es wurden neue Traditionen erfunden und in eine ritualisierte Erinnerungskultur übersetzt. Im Verlaufe der 1890er-Jahre stieg der 1. August dann auf Drängen der Auslandschweizer zum jährlichen Nationalfeiertag auf. Je stärker sich die Schweizer Wirtschaft in den Weltmarkt integrierte, desto wichtiger erachtete man die Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins.

AH: Wie ist es möglich, aus so unterschied-

lichen Gruppen eine Nation zu formen?

JT: Der Politikwissenschaftler und Historiker Benedict Anderson hat die Nation treffend als eine «imaginierte Gemeinschaft» beschrieben. Menschen, zum Teil Dutzende Millionen, die sich nie sehen, gründen eine Nation, weil sie das Bild einer beschützenden Gemeinschaft teilen, mit der sie sich identifizieren. Da ist die Schweiz keine Ausnahme. Das gilt auch für die Tatsache, dass sich jede Nation als etwas sehr Besonderes sieht. Diese «Sonderfall-Ideologien» finden wir überall, auch wenn sich die Schweiz in besonderem Masse darüber definiert.

 

AH: Ist die Kultur der Schweiz also begründet

in ihrer Vielheit von Kulturen und nicht in

einer flächendeckenden Einheit?

JT: Die Schweiz hat unterschiedliche Landessprachen und ist föderalistisch organisiert. Zwischen Helvetik und Wiener Kongress zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand die Westschweiz mit einflussreichen Kantonen, was einen staatsbildenden Diskurs der kulturellen Vielfalt als Voraussetzung für die nationale Einheit verstärkt hat. Als Reaktion auf die Gründung neuer Nationalstaaten in Europa hat sich die Schweiz seit Mitte der 1870er-Jahre zur «Willensnation» stilisiert, das heisst, zu einem Land, das sich nicht über eine homogene Kultur, sondern allein über seine historische Tradition legitimiert.

 

AH: Ist das auch der Grund, warum es

so viele verschiedene Wahrnehmungen

der Schweiz gibt?

JT: Tatsächlich wurden diese Traditionen sehr unterschiedlich bewertet. Der Name «Schweiz» ist ja zunächst einfach ein «leerer Signifikant», das heisst ein Zeichen, das mit äusserst gegensätzlichen Bedeutungen aufgeladen wurde. Es lässt sich eine ausgeprägte Dualität des Nationalstaatenstereotyps konstatieren. Auf der einen Seite wurde die Eidgenossenschaft als ein ruchloses Land wahrgenommen, dessen Söldner für jene kämpfen, die am meisten dafür zahlen und dessen Banken mit den Kriegen anderer Geld machen. Auf der anderen Seite stand diesem schurkischen Bild jenes eines Musterstaates gegenüber. Die Schweiz erschien als Sehnsuchtsort mit grandiosen Bergen, als Wunderland schlechthin. Das hat sich bis heute nicht geändert. Nach wie vor schöpfen Verteidiger*innen und Ankläger*innen der Schweiz aus einem reichhaltigen Arsenal von ikonografischen und diskursiven Versatzstücken und fügen diese zu suggestiven Vorstellungen zusammen. Der Historiker Guy Marchal hat das als «imagologische Bastelei» bezeichnet: Das Bild der Schweiz wird immer wieder neu zusammengesetzt aus Einzelteilen, die weithin bekannt sind und sich entsprechend leicht dechiffrieren lassen. Wenn man Tell oder Winkelried sagt, ruft man bekannte Namen ab. Wofür diese stehen, ist aber offen. Sie sind deshalb leicht instrumentalisierbar. Sie lassen sich für eine klassenkämpferische oder eine nationalharmonische Politik einspannen, sie können mit einer weltoffenen oder einer abgeschotteten Schweiz in Verbindung gebracht werden. Diese geschichtspolitischen Auseinandersetzungen sind wichtig für ein vertieftes Verständnis der Entwicklung der modernen Schweiz.

 

AH: Die Kontinuität einer schweizerischen

Kultur gibt es demnach gar nicht?

JT: Natürlich gibt es auf europäischen Landkarten ein seit 1815 unverändertes Territorium, das «Schweiz» genannt wird. Doch die Annahme, dieses sei aus eigener Anstrengung entstanden, ist nicht triftig. Der Wille zu einem gemeinsamen Staatswesen war in der Alten Eidgenossenschaft sehr unterentwickelt. So war die Schweiz auch immer das Produkt europäischer Eifersucht. Auf dem Wiener Kongress wurde eine innerlich zerstrittene Eidgenossenschaft durch die Grossmächte «neutralisiert». Mit der Gründung des modernen Bundesstaates anno 1848 entfalteten sich allerdings starke innere Gestaltungskräfte. Damit verhinderte die Schweiz erfolgreich, dass sie zu einer inneren Kolonie der grossen europäischen Mächte herabsank. Gleichzeitig beteiligte sie sich informell, aber erfolgreich am Kolonialismus und arbeitete sich im internationalen Zwischenhandel und seit dem Ersten Weltkrieg auch in der Vermögensverwaltung in eine Pole-Position vor.

 

AH: Was ist die Rolle der Mythen in diesen

Wechselbeziehungen?

JT: Nehmen wir Wilhelm Tell als Beispiel, der ein multimedialer Superhero von europäischem, ja globalem Format ist. Tell wurde in der französischen Revolution richtig gross, kurz darauf schrieb Schiller sein Drama, während Rossini Ende der 1820er-Jahre seine Oper komponierte. Trotzdem hat die Schweiz immer noch das Gefühl, dass sie Tell erfunden habe. Was auch stimmen mag, aber ohne die internationale europäische Reputation wäre sie ziemlich allein geblieben mit ihm. Schillers Lesart ist deshalb besonders nachhaltig, weil er zwei grundlegende politische Handlungsschemata vorstellt: Während Tell sagt «der Starke ist am mächtigsten allein», stehen die drei Eidgenossen, die sich auf dem Rütli die Treue schwören, für die Erkenntnis, dass sich Schwache zusammentun müssen, wenn sie die Kontrolle behalten wollen. Im Mythos sind damit politische Parabeln aufgehoben – und das macht seine Wahrheit aus.

 

AH: Ist die Schweiz nun Tell oder Rütli?

JT: In Bezug auf die Europäische Union macht die Schweiz auf Tell. Sie meint, sie wäre am stärksten, wenn sie allein ist. Die EU hingegen spielt die Rütli-Rolle und setzt auf inneren Zusammenhalt, um sich gegen die grossen internationalen Mächte, wie die USA oder China zu behaupten. In der Schweiz könnte man mit dem Hinweis auf den Rütlischwur ebenfalls für einen Betritt zur EU geworben werden. Mythen weisen also nie nur eine einzige Bedeutung auf, sondern werden strategisch eingesetzt in ideologischen und letztlich politischen Auseinandersetzungen. Anstatt Mythen zu «widerlegen», was nicht funktioniert, sollten wir die eindimensionalen Nationalmystifikationen bekämpfen, die mit ihnen begründet werden. 

 

AH: Welche Tendenz lässt sich in der

Gegenwart feststellen?

Die Schweiz ist nicht nur wirtschaftlich stark in grenzüberschreitende Märkte integriert, sondern sie war und ist schon immer in ein europäisches Kraftfeld eingebunden. So erstaunt es nicht, dass sich der fremdenfeindliche Nationalismus, der sich allenthalben in Europa zeigt, auch hierzulande artikuliert. Vieles spricht für die These, dass die SVP eine Trendsetter-Rolle spielte in dieser Entwicklung. Auch die zunehmende Polarisierung des politischen Systems, die sich europaweit bemerkbar macht, hat sich in der Schweiz schon seit längerem abgezeichnet. Allerdings gibt es nirgendwo Zwangsläufigkeiten; die Zukunft ist offen und welche Szenarien sich durchsetzen, hängt nicht nur von materiellen Interessen, sondern auch von Ideen und Emotionen ab. Und gerade hier kommt der Geschichtswissenschaft eine wichtige Funktion zu.

 

Jakob Tanner ist Historiker und emeritierter

Professor der Universität Zürich. Er schreibt

regelmässig Kolumnen für «Das Magazin» und

Bücher wie «Geschichte der Schweiz im 20.

Jahrhundert», das 2015 veröffentlicht wurde.

 

 

 

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