Vom 28. Mai bis 6. Juni ist die Theaterwelt wieder zu Gast in Winterthur. Das zweite Gipfeltreffen der Schweizer Theaterszene lädt Zuschauer, Kulturschaffende, Journalisten und Experten ins Theater Winterthur ein, um über Herausforderungen im Theateralltag und über die Notwendigkeit des Theaters zu diskutieren. Daneben gibt es Vorträge, Podien und Workshops. Preise werden vergeben und spannende Produktionen aus der Westschweiz, dem Tessin und der Deutschschweiz präsentiert. Mehr als 2000 Menschen fanden letztes Jahr ins Theater Winterthur; das ist eine Auslastung von 60 Prozent. Im Vergleich mit Theaterfestivals in Berlin und Avignon, bei denen die Tickets jeweils kurz nach Vorverkaufstart weg sind, war das 1. Schweizer Theatertreffen nicht gerade der Renner. Aber vielleicht kommen ja dieses Jahr mehr Leute.
Trotz dem Schweizer Theatertreffen ist Winterthur keine Theatermetropole – das soll und will die Stadt ja auch nicht sein. Aber im Rück- und Hinblick auf die Diskussion, ob das Theater Winterthur abgerissen werden soll, drängen sich doch ein paar Fragen auf: Wie wichtig sind die Theater für die Identität von Winterthur als Kulturstadt? Und braucht diese Stadt wirklich all seine Theater? Antworten zu finden, ist nicht einfach. Nach welchen Kriterien soll man die Notwendigkeit der einzelnen Theater in der Stadt überhaupt messen? Und welche Rolle kommt dem Theater in einer Zeit, in der wir auf verschiedensten Kanälen zu Informationen und Geschichten kommen, zu?
Alles ist schnell und flüchtig geworden. Mit Kopfhörern in den Ohren bewegt sich jede und jeder völlig vereinzelt durch die Strassen und kommuniziert währenddem über sein Smartphone. Was ist also der Reiz, ins Theater zu gehen? Vielleicht ist es das kollektive Zuhören; gerade weil wir so zerstreut sind in unserer Aufmerksamkeit, fordert das Theater von uns etwas Einzigartiges ein. Man sitzt mit anderen Menschen in einem Raum und hört und sieht sich gemeinsam etwas an. Steigende Besucherzahlen sprechen dafür, dass das Theater noch immer und wieder vermehrt auf Interesse stösst. Mit 75'000 Eintritten im Jahr 2014 und einer Auslastung von 70 Prozent ist das C asinotheater Winterthur das meistbesuchte Theater. Knapp 60’000 Gäste besuchten laut einer Statistik der Stadt in der Spielzeit 2012/13 das Theater Winterthur. Das entspricht einer Auslastung von 62 Prozent. Das Sommertheater verzeichnete 18’731 Gäste und hatte damit eine Auslastung von 78 Prozent. Auch beim Theater Kanton Zürich (rund 6000 bei Vorstellungen in der Stadt), beim Marionettentheater (5500, Auslastung von 70 Prozent), Theater am Gleis (5340, Auslastung 50 Prozent) Kellertheater (2457, Auslastung 76 Prozent) sind die Eintritte im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen.
Das Theater als Tauschsystem
Aber: Genügen Besucherzahlen als Legitimation, dass eine Stadt verschiedene Theaterhäuser braucht? Kann man die Notwendigkeit der Theater tatsächlich an wirtschaftlichen Faktoren messen? Natürlich sind sie auch mit der wirtschaftlichen Realität konfrontiert: Die Kulturpolitik zwingt sie in eine immer grössere Abhängigkeit von den Einnahmen. Wenn ein neuer Autor gespielt wird, kommen nur wenige. Das Theater lebt von einer Kundschaft, die vor allem wegen dem Bekannten kommt – Titel, die man kennt, beliebte Schauspielerinnen und Schauspieler. Und das wiederum ist schädlich für den Inhalt des gesamten Programms.
Der Inhalt – das Stichwort zu fragen, was denn eigentlich vom Theater erwartet wird. Die Theaterindustrie ist ein Tauschsystem: Ich gebe ihnen mein Geld und erwarte dafür von den Schauspielerinnen und Schauspielern, dass sie mir mit fast schon berechenbarer Leidenschaft einen Inhalt – egal ob Komödie, Avantgarde, Tanz etc. – präsentieren und sich verausgaben. Der französische Philosoph Roland Barthes formulierte in «Mythen des Alltags» treffend: «Und wenn der Schauspieler all sein Können zeigt, wenn er es versteht, ohne Tricks seinen Körper vor meinen Augen schuften zu lassen, wenn ich nicht an der Mühe zweifeln kann, die er sich gibt, dann werde ich ihn zu einem ausgezeichneten Schauspieler erklären und ihm meine Freude darüber bezeugen, auf sein Talent gesetzt zu haben, das mein Geld nicht unterschlägt, sondern es mir in Form von echten Tränen und echtem Schweiss hundertfach zurückerstattet.» Auch in Bezug auf die Leistungen des Regisseurs, die das Publikum mit genialen, neuen Einfällen überraschen müssen, funktioniert das System. Kurz: Der zahlende Gast will unterhalten werden oder etwas lernen, sich weiterbilden. Was heisst das nun für Winterthur? Erfüllen die Theaterhäuser diese inhaltlichen Erwartungen?
Seit 150 Jahren ein Fixstern: Das SommerTheater
Mitten im Stadtgarten steht das älteste Eventtheater der Stadt – seit genau 150 Jahren. Das Programm des SommerTheaters kommt noch immer beim Publikum an. «Wir machen klassisches Boulevard-Theater, das die Leute im besten Sinne unterhält», sagt Direktor Hans-Heinrich-Rüegg. Ein Besuch soll das Publikum zum Lachen, aber auch zum Nachdenken bringen. Zu sehen gibt es Unterhaltungsstücke mit einem ernsteren Hintergrund (oft Beziehungsprobleme), klassische und moderne Schwänke, gespielt von einem eigenen Ensemble. Rüegg, der seit 45 Jahren das Sommertheater leitet, kennt seine Stammkundschaft. Für diese sei das SommerTheater ein Stück Winterthur. Doch auch wenn Rüegg auf viele Fans zählen kann: Freie Wahl bei den Stücken hat der Patron dann doch nicht; ganz so aufgeschlossen wie in Berlin oder Hamburg sei das Publikum nicht: «Ich könnte nie eine Szene oben ohne spielen lassen», sagt Rüegg.
Die Spassmanufaktur: Das C asinotheater
Fast gegenüber steht das C asinotheater, das dasselbe Kredo wie das SommerTheater verfolgt, doch eine ganz andere programmatische Ausrichtung hat. Der Schwerpunkt: Humor in all seinen Facetten. «Die Gäste sollen etwas zum Lachen haben. Da wir uns selbst finanzieren, müssen wir von Abend zu Abend neue Leute ansprechen», sagt Programmleiter Nik Leuenberger. Das Programm decke deshalb ein breites Spektrum ab, eine Schublade gebe es nicht. In den 13 Jahren seines Bestehens hat sich das C asinotheater den Ruf erarbeitet, die Besten und Innovativsten der deutschsprachigen Kleinbühnenkunst und des Kabaretts nach Winterthur zu holen. Stars wie Gerhard Polt oder The Umbilical Brothers geben hier ihre einzigen Gastspiele in der Schweiz. Doch das C asinotheater setzt nicht nur auf Veranstaltungen, die ein volles Haus garantieren. «Bei der Rampensau zum Beispiel lassen sich junge Nachwuchstalente entdecken, die vielleicht erst in ein paar Jahren erfolgreich sind», sagt Leuenberger. Zum Erfolg trägt aber nicht nur das vielseitige Programm bei, sondern auch das hauseigene Restaurant sowie verschiedene Event-Räumlichkeiten.
Diskussion mit dem Publikum: Das Kellertheater
Das Publikum zum Nachdenken und Diskutieren bringen – das will das Kellertheater. Im kleinen Theatersaal an der Markgasse 53 wird zeitgenössisches Sprechtheater zu aktuellen Themen aufgeführt. Daneben gibt es Wortorte, in denen bereits veröffentlichte Texte von bekannten neben unveröffentlichten Texten von noch unbekannten Autoren und Autorinnen präsentiert werden, Talk-Abende, Lesungen oder Kurzgastspiele. «Den Entstehungsprozess von Stücken sichtbar zu machen, ist uns wichtig», sagt Leiterin Doris Strütt. Es sind gesellschaftliche Themen und Tabus, die auf der Bühne angesprochen werden. «Das Stück ‹Abfall›, in dem ein Pfleger einen Behinderten im Müll entsorgt, zeigt zum Beispiel die Überforderung des Pflegepersonals auf. Man darf keine Berührungsängste haben, solche Themen anzusprechen», sagt Strütt. Man wolle das Publikum nicht vor den Kopf stossen. Ziel sei es, nach der Vorstellung gemeinsam an der Bar zu diskutieren. Das Kellertheater macht mit wenigen Schauspielern Theater in und für Winterthur. «Der finanzielle Rahmen ist eng gesteckt, das Budget zu klein, um Stücke mit mehr Schauspielern aufzuführen.»
Jenseits des Mainstreams: Das Theater am Gleis
Das Theater am Gleis steht für die Vielfalt: Es ist eines der kleinsten Vier-Spartenhäuser der Schweiz und bietet seit über 30 Jahren für das aktuelle Kulturschaffen in den Bereichen Theater, Tanz, Musik und Kinder- und Jugendtheater eine Plattform jenseits des Mainstreams. «35 Personen kümmern sich als ehrenamtliche Mitarbeiter um das Programm. Eine Stossrichtung gibt es nicht – jede Gruppe hat ihre Freiheiten und einen anderen Fokus. Sie erarbeiten eigene Stücke oder laden andere Gruppen zu Gastspielen ein», sagt Jacqueline Pasanisi, Präsidentin des Vereins Theater am Gleis. Entstanden ist das Theater aus der Initiative einzelner Schauspielerinnen und Schauspieler, die einen Ort zum Auftreten suchten. 120 Vorstellungen pro Jahr sind hier zu sehen, daneben wird der Raum für Proben genutzt. «Als Produzierende ist man froh, wenn man einen Raum zum Üben hat, um professioneller zu werden. Zudem braucht es einen Ort, wo es möglich ist, auch mal zu scheitern», sagt Pasanisi. In Winterthur sei das Theater am Gleis das einzige Haus, das auf diese Nachfrage reagieren kann. Und diese ist inzwischen so gross, dass eigentlich ein zweites Theater am Gleis nötig wäre.
Theater der Figuren und Puppen: Theater im Waaghaus
Eine ganz besondere Nische deckt das Theater im Waaghaus seit 1971 ab: Das Haus für Figuren- und Objekttheater bietet gerade für Kinder einen idealen Einstieg in die Welt des Theaters. «Wir fördern die Vielfalt der Kleinkunst durch Vorstellungen mit Fadenmarionetten, Handpuppen, Schattenspiel und Objekten», sagt Theaterleiterin Ursula Bienz. Inhaltlich geht die Bandbreite von Märchen, Klassikern, Literarischem bis zu Experimentellem – auch für das Erwachsenenpublikum. Das Waaghaus ist als Gastspielhaus auch ein wichtiger Ort für Bühnen aus dem In- und Ausland.
Das grösste Gastspielhaus der Schweiz: Theater Winterthur
Das Theater Winterthur ist ein Begegnungsort, der verschiedene Funktionen erfüllt. Im grössten Gastspielhaus der Schweiz sind die neusten Produktionen der deutschsprachigen Opern- und Theaterbühnen sowie hochstehende Ballettaufführungen zu sehen. Neben international renommierten Truppen aus Wien, Berlin oder München ist das Theater aber auch Spielort der Winterthurer Kurzfilmtage und Auftrittsort für Kindertanztheater oder auch mal für das Junge Theater Winterthur. Das Foyer wird regelmässig zum Kleintheater umgebaut und bietet eine Plattform für Kinder- und Jugendtheater. «Das Programm deckt ein weites Feld ab: Vom klassischen Repertoire bis zu zeitgenössischen Produktionen sowie spannende Ko-Produktionen mit dem Musikkollegium oder dem Theater Kanton Zürich», sagt Programmleiter Thomas Guglielmetti. Das Theater Winterthur steht für die Hochkultur, die zum städtischen Leben gehört. Die Diskussion, das Theater abzureissen, macht für ihn deshalb wenig Sinn. «Warum soll man etwas aufgeben, das von der Grössenordnung her zu einer Stadt gehört? Man diskutiert ja auch nicht darüber, das Stadthaus abzubrechen, den Stadtpark zu überbauen oder die Freibäder und Turnhallen zu schliessen.» Das Theatergebäude sei extrem wichtig für die Identität der Stadt. Es ist ein Repräsentationsbau, den jedermann kennt. Ob die WinterthurerInnen das Stadttheater wegen des einzigartiges Programms vermissen würden, bezweifelt Guglielmetti allerdings. Opern und Ballett gibt es auch im Opernhaus Zürich zu sehen, die Tickets kosten allerdings dreimal so viel. Mit dem Schweizer Theatertreffen, das auf Initiative von Guglielmetti entstand, zeigt das Theater, dass es auch Innovatives wagt.
Die Produktionsstätte: Theater Kanton Zürich
Im Gegensatz zu den Bühnen mit festem Spielort reist das Theater Kanton Zürich mit einem professionellen Ensemble durch das Land. Es bringt das Theater in die Gemeinden. «Das Publikum soll sich ohne Schwellenangst reinsetzen können», sagt der Intendant Rüdiger Burbach. Im Repertoire des Genossenschaftstheaters, dem 100 politische Gemeinden, 20 Schulklassen und gut 250 Privatpersonen angehören, sind Klassiker, aber auch neue, zeitgenössische Stücke, Komödien, Kinder- und Jugendstücke. Es ist ein Volkstheater für jede und jeden. Das Theater finanziert sich über den Verkauf der Vorstellungen. Alle Premieren und erste Vorstellungen finden im Stammhaus in der Grüze statt. «Das Theater Kanton Zürich hat einen guten Ruf und spielt auch über die Kantonsgrenzen hinaus», sagt Burbach. «Wir sind ein Theater zum Anfassen. Das schätzen die Besucher.»
Die Kulturvermittler: Bühnerei
Die Bühnerei bietet die Möglichkeit, in die Welt des Zirkus und des Theaters eintauchen, In den Kursen, Workshops und Ferienprogrammen der Bühnerei haben jährlich bis zu 230 Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Möglichkeit, Zirkusartistik und Schauspiel näher kennen zu lernen, sagt Dunja Tonnemacher, Mitgründerin der Bühnerei. Ziel ist es, gemeinsam an etwas zu arbeiten und die Hemmschwellen abzubauen. «Es geht um Kulturvermittlung: Wir wollen gerade Kindern und Jugendlichen das Theater näher bringen, die Wahrnehmung schulen.» Das Angebot ist eine wichtige Ergänzung zum theaterpädagogischen Angebot der Schulen.
Das Theaterlabor: Junges Theater Winterthur
Der Verein Junges Theater Winterthur (JTW) hat zwar keinen eigenen Spielort, ist aber seit 16 Jahren eine wichtige Institution für das Theaterschaffen. 1999 wurde er als Theaterlabor für Spieler und Spielerinnen im Alter von 12 bis 26 Jahren gegründet. «Jugendliche und junge Erwachsene können sich austoben, Erfahrungen sammeln und von Älteren lernen», sagt Präsident Miro Hintermüller. Seit 2009 führt das JTW auch eine U16-Gruppe. Eine inhaltliche Ausrichtung gibt es bei den Produktionen des JTW nicht. «Jede Generation bringt etwas Neues ein», sagt Hintermüller. «Das JTW ist wichtig für die Identität der Stadt, weil es zeigt, dass auch Junge etwas auf die Beine stellen. Die anderen Theater brauchen zudem ein JTW. Denn Theater ist keine Kunstform, die bei Jugendlichen populär ist. Theaterbesuche haben oft einen biederen Nachgeschmack. Das JTW vermittelt nicht nur Theater, sondern macht auch Werbung fürs Theater, indem es ein junges Publikum anspricht», sagt Hintermüller.
Je vielfältiger, desto interessanter
Neben den erwähnten Institutionen gibt es weitere Vereine, Theatergruppen und Festivals, die zur Vielfalt des Theaterschaffens in Winterthur beitragen. Unterhalten, zum Nachdenken oder zum Diskutieren bringen und Kultur vermitteln: Jedes der Theater erfüllt eine der inhaltlichen Bedingungen, welche Theater für die Gesellschaft notwendig machen. Sie decken zudem jedes für sich eine eigene Nische ab und sind einzigartig in dem, was sie inhaltlich bieten. Auf eines dieser Theater zu verzichten bedeutet, auf eine dieser Nischen zu verzichten. Nun stellt sich die Frage, ob das die Stadt Winterthur tatsächlich will.