Stefanini. Und dann?

Hier sollte ein Text entstehen über die Freiheit des Wohnens und die Freiheit des Markts. Ich bin gescheitert. Was bleibt ist ein Auftakt. Und die grossen Fragen rund um Stefanini.

Bruno Stefanini. Der Name geistert in Winterthur herum wie der alte Mann selbst, wenn er spät in der Nacht in seinem abgenutzten Mantel mit seiner Taschenlampe irgendeines seiner verlassenen Häuser in Winterthur aufsucht. Jeder kennt ihn, den Immobilienmogul. Aber keiner kennt ihn wirklich. Kennst du Stefanini? «Ja klar». Echt, du kennst ihr? «Ah, du meinst persönlich? Nein.»

Bruno Stefanini gehört gefühlt halb Winterthur. Rund 5000 Liegenschaften in der gesamten Schweiz besitzt er, die Hälfte davon in der Eulachstadt: Seine Firma «Terresta AG» verwaltet auf Stadtgebiet 2500 Objekte, davon 1500 Wohnungen. Die Frage scheint daher berechtigt: Was passiert mit Winterthur, wenn Bruno Stefanini stirbt?

Weder die Steinberggasse, noch Töss, Veltheim oder Oberi kann man sich ohne die Stefanini-Häuser vorstellen. Selbst beim Heimspiel des FC Winterthur ist Stefanini allgegenwärtig: Dort, zwischen der neuen  «Gegen-Tribüne» und dem Gästesektor thront «sein» Sulzer-Hochhaus. 1998 kaufte Stefanini das Hochhaus. 2004 wurde es für ein Wochenende besetzt. Im Innern hielten die Besetzer Sitzungen ab. Leute spielten über die Stockwerke hinweg Fussball, in der Eingangshalle gaben Bands Konzerte. Die Besetzer frühstückten auf dem Dach, an der Fassade hingen Parolen. Weiter weg platzierten sich die Polizisten.  Vor dem Gebäude stand Stefanini und suchte mit den Besetzern das Gespräch.  Das war einer der seltenen Momente, wo man ihn sah. Für viele Besetzer aber war er in erster Linie einer von «denen», einer der Kapitalisten, von den Immoblienheinis. Einer von denen, welche lieber ein Hochhaus leer herumstehen hatten, als etwas darin zu erdulden, was Kreativität verspricht. Nein, ein Lieblings-Stadtkind der Linken ist Stefanini sicher nicht.

Gleichzeitig aber sind seine Häuser von Kreativen und Einkommensarmen bewohnt. Von Studenten und Wenig-Verdienenden, welche sich kein schmuckes Appartement für die schon dastehende oder noch kommende Kleinfamilie leisten können. Bei seinen Häuser ist es möglich, ein Zimmer für 200 Franken oder eine Vier-Zimmer-Wohnung für 800 Franken zu bekommen. Nicht nur irgendwo «ennet den Geleisen», sondern im Zentrum. Dort, wo der Bär tanzt. Zwar gibt es natürlich auch noch andere Anbieter preiwerter Wohnungen, aber dennoch: Wer günstig wohnen will oder muss, klopft früher oder später sicher mal bei Stefaninis Firma «Terresta AG» an.

Die tiefen Mieten haben natürlich ihren Preis. Auf Luxus einstellen darf man sich nicht: Vielleicht funktioniert die Heizung nicht, die Fenster sind undicht oder die Dusche steht in der Küche. Beim Vermieter muss man schon mehrmals anklopfen, bis etwas repariert wird. Das wissen die Mieter und für die meisten ist es ok. Denn sie wissen auch: Würde Stefanini es anders handhaben, wären die Wohnungen weniger preiswert. Schliesslich ist es ein Trade-Off zwischen billigem Wohnraum und Komfort.

Ausgang ungewiss

Die Stadt und ihre Beamten wissen um die Rolle Stefaninis im knappen Wohnungsmarkt Winterthurs. Was sie aber gar nicht mögen, ist, wenn der Immobilienunternehmer Häuser verlottern, leer stehen oder beinahe einstürzen lässt. Wiederholt kam es deshalb zum Streit mit Stadtbehörden und Politikern, welcher im Versuch gipfelte, auf Kantonsebene eine «Lex Stefanini» einzuführen. Der Gesetzesvorstoss forderte, Hauseigentümer enteignen zu können, wenn sie den Unterhalt ihrer Liegenschaften grob vernachlässigen. Er scheiterte im Kantonsrat knapp. Danach war es lange Zeit eher ruhig um die Liegenschaften von Stefanini. Man bekam sich wieder gern. Bei den baufälligen «Steinberggasse-Häusern» kam es zu  einvernehmlichen Lösungen und 2012 zog Sulzer wieder in ihr früheres Hochhaus ein.

Doch dann verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Bruno Stefanini letztes Jahr markant– und ein Streit um seine Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) begann. Hauptakteure sind dabei seine Kinder, und die Führung seiner Firma «Terresta AG». Das Testament des Immobiliensammlers sieht vor, dass sein gesamtes Privatvermögen und seine Liegenschaften in die SKKG übergehen. Nun tobt ein Kampf zwischen der Terresta-Geschäftsführung auf der einen, und Stefaninis Kindern Bettina und Vital auf der anderen Seite.  

Terresta-Geschäftsführer Markus Brunner versuchte anfangs Februar gegenüber dem Landboten zu beschwichtigen: «Der Streit um die Stiftung tangiert die Terresta-Liegenschaften, die Bruno Stefanini privat gehören, nicht.» Das mag für den Moment stimmen, nicht aber bei einem Ableben von Stefanini. Da die Firma «Terresta AG» zu hundert Prozent im Besitz von Stefanini ist, würde die Stiftung nach seinem Tod auch alle Liegenschaften besitzen. Eine Übergabe, welche übrigens gemäss Stiftungsrecht unbedenklich ist: Unterschieden wird zwischen dem «Stiftungszweck» und dem «Stiftungsvermögen». Die Immobilien wären somit angelegtes Vermögen, dessen Rendite dem Stiftungszweck dient – also der Pflege der «abendländischen und insbesondere der schweizerischen Kunst-, Kultur- und Geschichtswerte».

Was dies für die Mieten konkret bedeuten könnte? Das weiss niemand.  Stadtpräsident Michael Künzle zeigte sich ob der Vorkommnisse gegenüber Tele Top überrascht: Stefanini habe ihm letztes Jahr noch versichert, dass alles geregelt sei und problemlos über die Bühne gehe. Sorgen, dass nach einem Ableben Stefaninis die günstigen Wohnungen verschwinden würden, macht sich Künzle aber nicht. Zwar würden Renovationen vereinzelt zu Verteuerungen führen, aber ansonsten habe man keine Bedenken, dass die Wohnungspolitik in dieser Stadt auf den Kopf gestellt würde: «Der Bestand seiner Wohnungen ist derart gross, dass es gar nicht möglich ist, innerhalb von ein paar Jahren billige Wohnungen zu teuren zu machen.»

Von einzelnen Stefanini-Mietern ist derweil zu vernehmen, die «Terresta AG» sei grade daran, viele Wohnungen nach und nach zu renovieren. Beunruhigt sind die Mieter aber vor allem, weil sie nicht wissen wie es mit dem Streit weitergeht. Im Dezember gründeten einige eine Interessengemeinschaft:  Die «IG der BewohnerInnen und BenutzerInnen der Stefanini-Liegenschaften» (IGBB).  Persönliche Erfahrungen von Bewohnerinnen und Benutzern der Liegenschaften, aktuelle Berichterstattungen in den Medien sowie der Trend der Immobilienaufwertung im Sinne des Profits hätten verschiedene Betroffene zur Gründung dieser Interessensgemeinschaft veranlasst, schreibt die IGBB in ihrem Gründungs-Communiqué. Und weiter: «Wir nehmen den heutigen Stiftungsrat für Kunst, Kultur und Geschichte beim Wort, wenn er am sozialen Gedanken für günstigen Wohnraum festhalten will. Als IG setzen wir uns ein, dass dieses Versprechen eingehalten wird, sowie ganz allgemein für den Erhalt von günstigem Wohnraum zu sorgen ist. Es ist uns ein Anliegen, dass durch Immobilieninstandhaltung,nicht -aufwertung, Menschen mit weniger finanziellen und sozialen Ressourcen ein adäquates Zuhause finden und es auch behalten können.»

Nicht abwarten, «sondern aktiv werden», will die IGBB. Sie trifft sich deshalb seit Anfangs Jahr jeden ersten Sonntag im Monat. Die Türen der Treffen stehen für alle Bewohnerinnen und Bewohner von Stefanini-Wohnungen offen. Für Interviews und Medienauskünfte steht die IG zum jetzigen Zeitpunkt (Stand: 18. März) noch nicht zur Verfügung, ein Positionspapier sei jedoch in Arbeit. 

Der Markt, das Fragezeichen

Sowohl die Gründung der IGBB wie auch die mediale Aufmerksamkeit widerspiegeln die Sorge um günstigen Wohnraum in dieser Stadt. Kein Wunder: Mit 0,2 Prozent stehen so ebenso wenige Wohnungen frei wie in Zürich. Und obwohl von 2004 bis 2013 der Bau von Mietwohnungen massiv anstieg, sind gerade während dieser Zeit die Mietpreise um rund zehn Prozent gestiegen – denn gebaut wurden vor allem Wohnungen im mittleren und oberen Preissegment. Gemäss einer Studie der CSL-Immobilien soll es aber besser werden: Diese macht in der Region Winterthur sinkende Mietpreise von durchschnittlich 2.1 Prozent aus, insbesondere in der Altstadt und in Töss.

Mietervertreter kritisieren derweil an den Zahlen, dass Bestandesmieten günstiger seien, gerade jedoch bei Neuvermietungen oder Renovationen happige Aufschläge gemacht werden. Kritiker sehen sich darin bestätigt: Gerade dies zeige negative Effekte der Regulierungen. Denn zum einen kann man die Miete bei Bestandesbauten oft nur erhöhen, in dem wenn man eine umfassende Sanierung macht, zum anderen würden die tiefen Mieten bei Bestandesbauten mit höheren Mieten bei Neubauten kompensiert. Dass hier die Ansichten der Verfechter einer liberalen und diejenigen einer regulierten Wohnungsmarktpolitik  auseinander gehen, ist nichts Neues und Kern der alten Frage: Mehr Markt oder mehr Genossenschaftsbau? Eigentlich ist es simpel: In einem Markt, wo viele Wohnungen angefragt werden, sinkt der Mietpreis je mehr Wohnungen angeboten werden. Vertreter der freien Marktwirtschaft monieren deshalb, dass gerade durch den Genossenschaftsbau und die Regulierungen die Attraktivität für private Anbieter sinke, günstige Wohnungen zu bauen. Genossenschafts-Verfechter wiederum argumentieren mit der Durchmischung und dass der Markt eben nur teurere Wohnungen anbieten würde.

2012 wurden in Winterthur 5337 Eigentums- und 5510 Genossenschaftswohnungen gezählt. Was mit dem Angebot auf der Genossenschafts-Seite geschieht, ist in der Tendenz klar: Es wird steigen. Ein Rahmenkredit von zehn Millionen Franken für zinslose Darlehen für gemeinnützige Wohnbauträger kam letztes Jahr bei den Stimmbürgern durch, in Maienried in Wüflingen und bei Busdepot wurde das Baurecht an Genossenschaften erteilt, weitere Genossenschaftswohnungen sind geplant. Schwierig abzuschätzen bleibt derweil, wie sich der Anteil günstiger Wohnungen auf dem freien Markt entwickeln wird: Die Immobilienbranche geht zwar längerfristig von einer Verlagerung der Investitionstätigkeiten hin zu Mietwohnungen aus. Gleichzeitig ist aber in der Branche eine Skepsis gegenüber Investitionen in günstigere, kleinere Wohnungen spürbar. Das ist nicht verwunderlich, da in den vergangenen Jahren ein Angebots-Markt herrschte: Was teuer angeboten wurde, konnte auch teuer vermietet werden. Ein Umschwung könnte allerdings anstehen, denn Rendite kann auch mit preiswerten Wohnungen erzielt werden.

Raum für die Kreativwirtschaft

Geringe Kosten, geringe Mieten, genügend Rendite: Während viele andere Investoren noch zögern mögen, bietet Bruno Stefanini auf dem privaten Wohnungsmarkt schon lange günstige Wohnungen nach diesem Modell an. So unklar und schwierig eine Prognose ist, ob die jetzigen Entwicklungen in der «Causa Stefanini» Auswirkungen auf die Mietpreise haben, so klar ist es, dass sich Winterthur verändern würde, wenn sie es täten.  Allein ein Blick auf die von der IGBB erstellten Google-Karte, welche auf ihrer Webseite einsehbar ist, zeigt, dass diese Stadt insbesondere auch in ihren Zentren mit Stefanini-Liegenschaften übersäht ist. Würden diese teurer, würde sich auch das Bild der Stadt verändern. Am besten zeigt dies wohl ein Vergleich zwischen der Steinberg- und der Marktgasse: Erstere ist voll von Stefanini-Wohnungen, letztere nicht.

Auch rund um die Neustadtgasse gehören viele Liegenschaften dem Immobilienunternehmer. Ist es ein Zufall, dass die Steinberggasse und die Neustadtgasse in der Altstadt die interessantesten Gassen sind, welche Kleinunternehmer, Künstler und Kaffees beheimaten? Viele Faktoren spielen bei solchen Entwicklungen mit, und dennoch, gibt es einen Zusammenhang. Ein Blick ins persönliche Umfeld zeigt: Viele Personen, die im Kulturbereich arbeiten, «wohnen stefanini». Musiker, Theatermacher, Konzertveranstalter, Filmer... Die Liste ist lang. Es sind Leute, welche das kulturelle Leben in Winterthur mitprägen und es weiterentwickeln. Es ist ein Zirkelschluss: Weil sie kulturell tätig sind, haben sie wenig Geld; weil sie wenig Geld haben, wohnen sie in Stefanini-Wohnungen; weil sie in solchen wohnen, können sie schlechtbezahlte Kultur machen.

«Nicht aufwerten», sondern «instand halten»: Das erwarten die Bewohner der Stefanini-Liegenschaften von ihrem Vermieter. Ihr Anliegen ist legitim – zugleich  werfen Gedankenspiele rund um die Stefanini-Wohnungen weitere Fragen auf, welche sich die Stadt stellen muss: Braucht es eine Durchmischung und muss diese gesteuert zu werden? Wie sehr setzen wir auf den freien Markt, wie sehr auf Genossenschaftswohnungen? Gibt es einen Anspruch auf eine günstige Wohnung an zentraler Lage? Wie wird sich die Wohnungssituation entwickeln? Bei diesen Fragen ist klar: Die Zukunft der Immobilien von Stefanini ist relevant für diese Stadt.

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