Der Walfisch und die Flüchtenden.

Der Walfisch und die Flüchtenden.

Ein Interview mit dem Künstler Pedro Roth

    1. Von Budapest nach Buenos Aires (und in die Schweiz)

     

    Damian Christinger: Pedro Roth, was führt Sie in die Schweiz und wie gefällt es Ihnen hier?

    Pedro Roth: Ich wurde von CapriConnection und der Autorin Anne Jelena Schulte eingeladen, Teil einer Theaterinszenierung in der Schweiz zu sein. Während die Schauspielerin Susanne Abelein eine Textcollage performt und die drei Musiker improvisieren, während Dias an die Wände projiziert werden – Kopien von Pässen und Passierscheinen, Aufenthaltsgenehmigungen und Registrierkarten –, tue ich das, was ich eigentlich konstant und überall tue: Ich zeichne. Mir gefällt es in der Schweiz sehr, die Ruhe und Ordnung, die Berge und die Seen, wobei ich Buenos Aires auch vermisse. Die argentinische Hauptstadt ist in vielem das Gegenteil von Zürich, vor allem die Cafés. Ich habe mich der Schweiz immer seltsam verbunden gefühlt, weil ich als Kind in Budapest eine Art Schweizer Pass hatte, vielleicht war es auch einfach ein Passierschein, der mich als jüdisches Kind vor den Nazis schützen sollte. Verstecken war natürlich besser, auch weil gegen Kriegsende die deutschen Soldaten dachten, dass wir auch Schweizer Franken besitzen mussten, die sie uns abnehmen wollten. Einmal hat mir einer eine Pistole an den Kopf gehalten und – aber ich schweife ab. Seither assoziiere ich die Schweiz irgendwie mit Sicherheit, auch wenn ich mittlerweile natürlich weiss, dass sie während des Zweiten Weltkrieges natürlich alles andere als ein sicherer Hafen für Flüchtende war. Ich stelle mir vor, dass ich in Buenos Aires vielleicht einmal auf die Botschaft gehen sollte, um alte Rechte geltend zu machen, so dass meine Kinder und Enkelkinder auch einen Schweizer Pass haben könnten – ob das wohl klappt?

     

    DC: Sie reisten nach dem Krieg nach Buenos Aires?

    PR: Ja. Über Umwege, zuerst gingen meine Mutter und ich über Transsilvanien nach Palästina, dann über die USA nach Argentinien. Wir mussten zuerst herausfinden, wer von unserer Familie noch lebte. Durch einen Zufall haben alle auf der Seite meiner Mutter überlebt, die Familie väterlicherseits wurde ganz ausgelöscht. Ich war froh, in Argentinien anzukommen, auch wenn zuerst alles fremd und seltsam war.

     

    DC: Um diese Ankunft geht es auch im Theaterstück «Hotel der Immigranten». Es geht um Auswander*innen aus der Schweiz und Europa, Armutsflüchtlinge und politisch Verfolgte, die am Anfang des 20. Jahrhunderts als Immigrant*innen in Buenos Aires ankommen. Ein verdrängtes Kapitel in der Geschichte Europas. Sie kamen fast fünfzig Jahre später in Buenos Aires an, wie wurden sie empfangen?

    PR: Freundlich und offen. Die halbe Welt war in diesen Jahren in Bewegung, sehr viele waren heimatlos und mussten sich neu erfinden. Es wurden keine grossen Unterschiede bei der Herkunft gemacht. Sowohl Nazis, die fliehen mussten, als auch Überlebende des Holocausts wie wir fanden in Buenos Aires schnell eine neue Heimat. Alle, die bereits da wohnten, kamen ja auch von irgendwoher, waren vielleicht eine oder zwei Generationen da, ehe wir ankamen. Das hatten sie noch nicht vergessen.

     2. La ballena va llena (Der Wal ist voll)

     

    DC: Sie sind Teil des Kollektives «La estrella del sur» und zeichnen als Filmemacher mitverantwortlich für «La ballena va llena» (Der Wal ist voll), einem Film über ein unmögliches Kunstprojekt.

    PR (unterbricht aufgebracht): Sag niemals unmöglich! Auch wenn unser Projekt während des Filmes noch nicht vollständig realisiert werden konnte, arbeiten wir konstant daran weiter. Aufgeben gilt nicht.

     

    DC: Mit Verlaub: Der Film beginnt damit, dass sich eine Gruppe älterer Herren zum Frühstück in einem Café trifft und beschliesst, bei einer spanischen Stiftung um ein Stipendium zu ersuchen, damit ein Kreuzfahrtschiff für Flüchtlinge gebaut werden kann. Man sieht euch immer wieder, wie ihr mit einer Dame der Stiftung in Madrid telefoniert, doch bis zum Schluss materialisiert sich das Geld nicht...

    PR: Bis jetzt nicht, das stimmt. Dafür sind die Entwürfe für das Schiff und die Planung des Projektes weit fortgeschritten.

     

    DC: Wie sollen wir uns das vorstellen?

    PR: Der Walfisch ist ein luxuriöses Kreuzfahrtschiff, das Flüchtende aufnimmt. Also nicht eines jener Schiffe, die man in den Nachrichten aus dem Mittelmeer sieht. Jene Schiffe, die durch die Europäische Union an der Arbeit gehindert werden. Kreuzfahrtschiffe können frei passieren. Ein Modell der luxuriösen Kabinen und eines Salons haben wir übrigens im Hotel der Immigranten in Buenos Aires ausgestellt. Dem Ort, der diesem Theaterstück seinen Namen lieh. Das Hotel, in dem die Einwander*innen registriert wurden und wo sie wohnen konnten, bis sie etwas anderes gefunden hatten, ist heute ein Museum für zeitgenössische Kunst und gleichzeitig ein Zentrum der Erinnerung an die Immigrant*innen und ihre Kulturen. Ein Ort, der uns daran erinnert, dass Einwanderung immer auch Bereicherung meint.

    Aber ich schweife ab. Auf dem Oberdeck befindet sich eine Art offene Kappelle in der Form des Pissoirs von Man Ray, des ersten Readymade der Kunstgeschichte. Durch dessen Wasser werden die Passagiere weltlich getauft, das heisst, sie werden transformiert, von Flüchtenden zu Kunstwerken, die dann ganz legal nach Europa oder in die USA importiert werden können. Ich mache diese Auftritte im Theater auch, um lokale Kunstschaffende und Kurator*innen kennenzulernen und vorsorglich zu fragen, ob sie und ihre Institutionen bereit wären, diese Kunstwerke dann zu importieren und aufzubewahren. Das erinnert mich daran, dass ich Sie das fragen wollte: Könnten Sie, oder eine Institution, für die sie arbeiten, einem solchen Werk eine neue Heimat bieten?

     

    DC: Äh nein, nicht das ich wüsste, das müsste ich zuerst klären... Wir kommen darauf zurück, wenn Ihr das Schiff gebaut habt. Ihr macht Menschen zur Ware, weil ihr denkt, dass sie so einfacher ins Land kommen?

     3. Die Kraft der Poesie

     

    PR: Da müssen wir genau bleiben. Wir transformieren sie. Historisch gesehen ist ja eine der schlimmsten Katastrophen der Geschichte die Verschleppung von Menschen aus einem Kontinent und ihre Verschiffung als Ware in Schiffbäuchen in andere. Ein Verbrechen, auf dessen Basis auch Genozide des 20. Jahrhunderts stattfanden. Der Reichtum des Westens basiert auch auf dem Wirtschaftswachstum des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, der von Sklav*innen erschaffen wurde. Die so entstandene Ungleichheit dauert bis heute an, gegenwärtig führt sie beispielsweise zu Flüchtlingsströmen von Afrika nach Europa. Damit hat unser Projekt nichts gemein. Wir transformieren die Flüchtenden nicht in irgendwelche Gegenstände, sondern in Kunstwerke. Sie sind keine Objekte, sondern Readymades, immer noch sie selbst und gleichzeitig etwas anderes. Eine Möglichkeit vielleicht.

     

    DC: Was unterscheidet ein Kunstwerk denn von einem Objekt?

    PR: Die Poesie. Jene Kraft, die Dinge transformieren kann, aber auch Menschen. Sie haben natürlich recht. Unsere Telefonate im Film haben etwas Absurdes, für manche vielleicht sogar etwas Komisches. Aber auch wenn man Humor nie unterschätzen sollte, so geht es uns doch eher um das Absurde. Die ganze sogenannte Flüchtlingskrise, ob in den USA, in Lateinamerika oder Europa, ist doch ein zynisches, inszeniertes Theater der Nationalist*innen. Denken Sie daran, dass ich mich an ein Europa erinnern kann, das gesamthaft auf der Flucht war. Es ist absurd. Und gegen das Absurde hilft nur die Poesie.

     

    DC: Sie glauben an die Kraft der Poesie?

    PR: Als Künstler, aufgrund meiner Biografie, wegen all der Toten und Verschleppten, bleibt mir ja nichts anderes übrig. Als Immigrant transformieren Sie sich ja selbst. Als Künstler noch dazu konstant. Heute bin ich nicht mehr der Junge in Budapest, sondern ein Maler, Zeichner und Filmemacher aus Buenos Aires. Ich bin Ehemann und vierfacher Vater, Grossvater und seit kurzem Akteur auf einer Theaterbühne. Poesie ist Transformation, ansonsten überlassen wir das Feld den kalten Technokrat*innen, den Nationalist*innen, den Stumpfen und Ängstlichen. Sie werden sehen, wir werden dieses Schiff, den Wal, noch bauen!

     

    Pedro Roth (*1938, Budapest) studierte Film an der Universidad Nacional de La Plata und später Fotografie unter Esteban Sandor und Nicolas Schonfeld. Er lebt und arbeitet als Maler, Autor und Filmemacher in Buenos Aires. Seine Werke befinden sich unter anderem im Jüdischen Museum in Prag, dem Museum für moderne Kunst in Buenos Aires (MAMBA) und dem Museum für zeitgenössische Kunst in Santa Fe. Der Film «La Ballena va llena» wurde als bester Dokumentarfilm für den Silver Condor Award nominiert.

     

     

    Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Pedro Roth wurde von Damian Christinger  am 23. März in der Gessneralle Zürich in Spanisch geführt.

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