Weshalb Rainer Fassbinders Film «Angst essen Seele auf» noch immer aktuell ist.

Weshalb Rainer Fassbinders Film «Angst essen Seele auf» noch immer aktuell ist.

Interview mit Pakkiyanathan Vijayashanthan

1. Von Mutur nach Colombo

Damian Christinger: Lieber Vijayan. Als wir uns vor rund neun Jahren beim Kerzenziehen im Gemeinschaftszentrum Wipkingen kennenlernten, stelltest du dich als Vijayan vor. Auf meine Nachfrage erklärtest du, dass dein Name für Schweizer Zungen zu kompliziert sei... Welcher Name steht in deinem Pass? 

Vijayan: Pakkiyanathan Vijayashanthan. Der Familienname kommt bei uns an erster Stelle.

 

DC: Gehörst du zu einem Volk?

V: Die einfache Antwort würde lauten: Ich bin Tamile. Tatsächlich aber gehöre ich ins Theater.

 

DC: Wie meinst du das?

V: Ich bin in Sri Lanka geboren und aufgewachsen, musste das Land jedoch verlassen und lebe seit 2007 in der Schweiz. Beide Länder machen es mir unmöglich, mich wirklich zugehörig zu fühlen. Meine Heimat ist das Theater, wo man sich auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam etwas erarbeiten kann.

 

DC: In der Interview-Reihe «Der Balken in meinem Auge», für die wir dieses Gespräch führen, fragen wir auch nach den Produktionsumständen und -prozessen in der Kultur: Wie wird Kultur gemacht, wie kommt sie zustande? Ein wesentlicher Aspekt dieser Bewegungen ist die Migration – von Ideen und Menschen. Kehren wir also zurück zu deinen Anfängen: Wo bist du geboren und aufgewachsen?

V: Geboren wurde ich 1975 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mutur in der Provinz Trincomalee im Nordosten von Sri Lanka. Bald zogen wir nach Mutur, wo ich die Schule besuchte.

 

DC: Wie soll ich mir Mutur und deine Schulzeit dort vorstellen?

V: Mutur ist von der Grösse her vergleichbar mit einer kleinen Stadt wie Wetzikon, die Strassen allerdings sind staubiger und die Vegetation ist dichter, grüner, tropischer. Meine Schulzeit war geprägt von vielen Zwangspausen.

 

DC: Warum?

V: 1981 kam es in Jaffna zu blutigen Unruhen zwischen Singhalesen und Tamilen, also zwischen Buddhisten und Hindus. Im Zuge dieser Unruhen wurde die Bibliothek von Jaffna, das schriftliche kulturelle Gedächtnis der Tamilen in Sri Lanka, niedergebrannt. Über 97'000 Bücher und Manuskripte, zum Teil uralte Palmblatt-Manuskripte, wurden zerstört. Um die verschiedenen Parteien zu mobilisieren, wurden die gesellschaftlichen Fragen der Zeit von den Politikern stark auf Fragen der Sprache, der Kultur und der Religion zugespitzt. Der seit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft 1948 stetig schwelende Konflikt zwischen den verschiedenen Volksgruppen und Religionen, den Hindus, Buddhisten und Muslims, Singhalesen und Tamilen radikalisierte sich derart schnell, dass er ab 1983 in einem Bürgerkrieg eskalierte, der 25 Jahre dauern sollte und auch Mutur zu meiner Schulzeit in den Würgegriff nahm.

 

DC: Viele junge Tamilen radikalisierten sich in den Achtzigern und frühen Neunzigerjahren. Wie erging es dir?

 V: Als ich ungefähr 16 war, realisierte ich eines Tages, dass ich in meiner Klasse noch der einzige Junge unter lauter Mädchen war – alle anderen waren in den bewaffneten Untergrund gegangen. Natürlich haben sie auch mich zu rekrutieren versucht, ich habe aber abgelehnt.

 

2. In Colombo

 

DC: Weshalb hast du dich nicht radikalisiert?

V: Die Bilder der Gewalt haben sich in meiner Kindheit tief in mein Gedächtnis eingebrannt, wie wohl in die Köpfe meiner ganzen Generation. Bei mir hat dies allerdings nicht zu Hass, sondern zu einer tiefen körperlichen und seelischen Abneigung gegen jede Form von Gewalt geführt. Ich habe in dieser Zeit viel gelesen, tamilische, aber auch indische, russische und westliche Literatur. Ich wollte keine Bücher verbrennen und schon gar nicht auf Menschen schiessen. Mit 17 bin ich einer Theatergruppe in Trincomalee beigetreten. Dies war meine Welt, dort habe ich verstanden, dass wirkliche Veränderungen nicht von Gewalt ausgehen können. Als ich die Schule beendete, ging ich nach Colombo um mich dort ganz dem Theater zu widmen.

 

DC: Wovon hast du gelebt?

V: Ich bekam einen Job im Archiv einer grossen Zeitung, schnitt dort Artikel aus, klebte sie auf und verschlagwortete sie. Das Off-Theater in Colombo war einer der wenigen Orte, an denen tatsächlich Debatten stattfanden, an denen verschiedenste Menschen zusammenkamen. Der Rest der Stadt war wie gelähmt, man lebte in einem konstanten Klima der Angst.

 

DC: Wieso?

V: Fast jede Woche gab es Bombenanschläge, Entführungen und Überfälle. Das Verschwindenlassen von Menschen gehörte zum Alltag der neunziger Jahre in Colombo. Die damit verbundene konstante Angst ist wie ein Gift, das sich langsam in die Köpfe und Körper von uns Menschen frisst, bis wir aufhören zu denken. Ich glaube, dass die westlichen Gesellschaften erst seit dem 11. September 2001 überhaupt annähernd erahnen können, was das heisst. Das Erodieren von Werten und Gedanken, die wir einmal hochhielten, hat mich erschüttert. Wir versuchten dem entgegenzuwirken und spielten Theater auf der Strasse, besuchten die Communities und suchten das Gespräch. Zu jedem Gift müsste es ja eigentlich ein Gegengift geben – auch wenn es nur langsam und lokal wirkt.

 

3. Von Colombo in die Schweiz

                                                

DC: Der Grund dafür, dass du 2007 von Indien aus um politisches Asyl in der Schweiz ersucht hast, hatte aber nichts mit dem Theateraktivismus zu tun...

V: Indirekt schon: Theater hat für mich mit der Welt zu tun, in der wir leben, es ist kein Ort des Eskapismus. Theater setzt sich mit den Realitäten auseinander, die für unsere Lebenswirklichkeiten wichtig sind. Nachdem ich jahrelang Zeitungsartikel ausgeschnitten und archiviert hatte, wurde ich Teil eines Rechercheteams der Zeitung. Wir fuhren hinaus aufs Land und in die Dörfer, um zu schauen, was sich ereignete, allerdings durften wir fast kaum drucken, was wir fanden. Eine fundierte Recherche fand kaum statt; und falls doch, wurde sie nicht publiziert. Über Freunde und ein monatelanges Abtasten – niemand traute niemandem in diesem Klima der Angst – wurde ich schliesslich Teil eines Netzwerkes, das die Gräueltaten der verschiedenen Parteien genau zu dokumentieren versuchte. Die Ergebnisse dieser Recherchen wurden dann ins Ausland geschmuggelt und dort gebündelt und systematisiert. Den verschiedenen Fraktionen und der Regierung war diese Art der Recherche, die ihre Verbrechen dokumentierte, natürlich ein Dorn im Auge. Sie schleuste ihre Informanten ein, am 18. Mai 2007 wurde ich auf offener Strasse entführt und in ein Haus auf dem Land verschleppt. Ich wurde eingesperrt und dachte, dies sei das Ende. Dann öffnete sich die Türe und ein alter Schulfreund aus Mutur signalisierte mir, ich solle wegrennen und verschwinden. Ich hatte Angst, dies könne eine Falle sein. Doch da ich nichts zu verlieren hatte, rannte ich los. Ich schlug mich nach Colombo durch und Freunde halfen mir, nach Indien zu gelangen, wo ich in den verschiedenen Botschaften um Asyl für mich, meine Frau und die kleinen Zwillinge bat. Die Schweiz war das erste Land, das die Anfrage positiv beantwortete und so landeten wir am 14. August 2007 in Kloten.

 

DC: Wie wurdest du in der Schweiz empfangen?

V: Bei unserer Ankunft wurde ich zuerst gleich von meiner Frau und meinen Kindern getrennt. Ich hatte Angst und versuchte herauszufinden, was vorgeht, doch die Beamten verstanden mein Englisch nicht oder es war ihnen egal, wie ich mich fühlte. An diesem Grundgefühl der Indifferenz der Schweizer arbeite ich mich heute noch ab, emotional wie auch beruflich.

DC: Deine letzte Produktion mit dem von dir gegründeten «Experi Theater» war eine Theaterversion von Rainer Werner Fassbinders Film «Angst essen Seele auf» von 1974. Weshalb dieser Stoff?

V: Weil er leider noch genau so aktuell ist wie damals. Das Magengeschwür von Ali, das ihn gegen Ende des Films kollabieren lässt, ist eine Metapher für das, was uns umtreibt. Wenn nun die Indifferenz einer einheimischen Bevölkerung in offene Angst gegenüber Neuankömmlingen umschlägt, die sich immer stärker auch rassistisch äussert, dann breitet sich auch das Magengeschwür immer stärker aus. In Fassbinders Erzählung stammt Ali aus Marokko, heute kommt er vielleicht aus Syrien oder Afghanistan – in den achtziger und neunziger Jahren kam er aus Sri Lanka.

 

 

Pakkiyanathan Vijayashanthan ist Theateraktivist, Regisseur und Schauspieler. Er ist Gründer und Leiter der freien Theatergruppe «Experi Theater». Er lebt in Zürich.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Pakkiyanathan Vijayashanthan wurde von Damian Christinger am 26. Juli 2016 in Zürich geführt.

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