Bevor die Pflanzen Namen hatten.

Bevor die Pflanzen Namen hatten.

Interview mit dem Künstler Uriel Orlow.

  1. Pflanzen und Labels

 

Eva Vögtli: In deinem Projekt «Theatrum

Botanicum» geht es um die Verdrängung von

südafrikanischer Kultur während der

europäischen Kolonialisierung. Dabei wurden

unter anderem Pflanzen «neu entdeckt», das

heisst, neu benannt. Die Installation «What

Plants Were Called Before They Had a Name»

funktioniert als Audiodictionnaire. Man hört die

ursprünglichen Pflanzennamen in insgesamt

zwölf Sprachen aus verschiedenen Gegenden

Südafrikas. Wie bist du auf diese Namen

gestossen, die nie niedergeschrieben wurden?

Uriel Orlow: Ich habe während mehrerer Jahre an «Theatrum Botanicum» gearbeitet und immer wieder einige Monate in Südafrika verbracht. Das Wissen habe ich durch Kontakte vor Ort gesammelt. Solche Kontakte sind für meine Arbeit sehr wichtig. Mein Blick soll kein touristischer, flüchtiger sein. Ich will mich auf eine Auseinandersetzung, auf Orte und Menschen einlassen, um etwas Granulares – das heisst, etwas Vielschichtiges, inhaltlich Komplexes – zu schaffen, was nicht nur ein Abbild von aussen ist. Im Projekt «Theatrum Botanicum» geht es um Verstrickungen zwischen Europa und Südafrika, die mit der Kolonialzeit begannen und bis in die Gegenwart reichen. Aus diesem Blickwinkel überlegte ich, weshalb alle Namensschilder im Botanischen Garten «Kirstenbosch» in Kapstadt in Latein oder Englisch beschriftet sind. Es geht um eine Art Erinnerungsarbeit, die eben auch mit uns, das heisst mit mir als Europäer, zu tun hat.

EV: Du betreibst in deiner Arbeit eine Art von

künstlerischer Forschung. Verstehst du dich

dabei auch als politischer Künstler, der ein Stück

weit Aufklärungsarbeit leistet?

UO: Natürlich hat meine Arbeit mit politischen Themen zu tun und ist auf jeden Fall recherchebasiert. Für mich ist diese Kategorisierung aber unwichtig. Ich arbeite an für mich wichtigen Themen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Vielleicht gibt es da ein politisches Anliegen oder auch ein ethisches. Es geht mir zum Beispiel um Verantwortungsfragen und wie wir uns der Vergangenheit gegenüberstellen.

EV: Du willst deine Kunst nicht in eine

Schublade stecken.

UO: Genau. Um nochmals auf die Arbeit von vorhin zurückzukommen: Die Pflanzennamen in diesem Audiodictionnaire sind nicht nach Sprachen geordnet. Die Klassifizierung von Sprachen und die Frage nach Organisationswissen sind Teil des europäischen Aufklärungsprojekts. Wir wollen immer wissen, wie etwas eingeordnet werden kann. Doch Sprachen fliessen im Normalfall, wenn es keine Ländergrenzen gibt, ineinander. So gibt es in Südafrika keine klare Trennung zwischen dem Anfang der einen und dem Ende einer anderen Sprache. Im Prinzip geht es mir darum, nicht in diesem europäischen Denken von Kategorisierung zu funktionieren.

EV: Hast du dich während deiner

Forschungsreise in Südafrika von Anfang an für

die Rolle der Pflanzen in Zusammenhang mit

der Kolonialisierung interessiert oder stand

ursprünglich die Klassifizierung von Menschen

während der Apartheid in deinem Fokus?

UO: Ich wurde zu einem kurzen Rechercheaufenthalt nach Südafrika eingeladen. In den Archiven stiess ich hauptsächlich auf die jüngere Geschichte Südafrikas, die sehr viel mit Apartheid zu tun hat. Das Material war wahnsinnig spannend, doch es ergab sich keine Projektidee daraus. Gegen Ende dieser zwei Wochen, nach einem Meeting im Café des Botanischen Gartens Kirstenbosch, fielen mir plötzlich die Pflanzenschilder mit den ausschliesslich englischen und lateinischen Pflanzennamen auf. Es gibt aber elf offizielle Sprachen in Südafrika. Das ist eine epistemische Gewalt, die immer noch wirkt, obwohl der Kolonialismus und die Apartheid vorbei sind. Mich interessierte, wie Pflanzen instrumentalisiert wurden. Ich begann, die Geschichte über die Pflanzen zu denken.

 

2. Rückführung von Erinnerung

 

EV: Die Geschichte und die Fragen reichen bis

ins postkoloniale Heute: Wem gehören die

Medikamente, die auf Basis von südafrika-

nischen Heilpflanzen entwickelt wurden? Wenn

es um postkoloniale Ausbeutung geht, dann

auch um indigene Kulturgüter, die heute in

Museen ausgestellt werden. Siehst du dich mit

deinem Kunstschaffen selbst in einem

Zwiespalt, wenn du eine verdrängte Kultur und

das ursprüngliche Wissen zum Inhalt machst?

UO: Das sind verschiedene Fragen. Es gibt einerseits das botanische Wissen und das traditionelle Medizinwissen, das von der Pharmazeutik vereinnahmt wird. Es ist eine Art Fortführung der kolonialen Extraktionspolitik, bei der früher Mineralien und andere Ressourcen extrahiert wurden.Die Museumsobjekte hingegen wurden einfach gestohlen – das ist nicht dieselbe Ökonomie wie eine Extraktionspolitik. In Bezug dazu gibt es die Frage nach Restitution, um die es teils sehr konkret in meinen Arbeiten geht – um die Rückführung von Kulturgütern aus Museen oder von Gewinnen der Pharmaziekonzerne, die auf ursprünglichem Wissen basieren. Ich selbst versuche mir nicht einfach etwas anzueignen, sondern mich mit unseren Verstrickungen auseinanderzusetzen.

EV: In einem Film von dir, der an der

diesjährigen Videoex gezeigt wurde, geht es um

die Rückführung der Benin-Bronzen. Also um

Kulturgüter, die die Engländer 1897 in Nigeria

stahlen – einer der grössten Kulturraube der

modernen Zeit. Und im Film «Imbizo ka

Mafavuke» aus «Theatrum Botanicum» geht es

um die Rückführung der Pharmaziegewinne.

UO: Genau. Mir geht es um Restitution, also Wiederherstellung in einem grösseren Sinn – auch um eine Rückführung der Erinnerung in die Geschichte. Die Stimmen, die die ursprünglichen Pflanzennamen aussprechen – das ist eine Art von Restitution. Dadurch wird eine Erinnerung hörbar.

EV: Was ist mit der anderen Frage: Ob du

selbst in diesen ganzen Verstrickungen

irgendwo drin bist?

UO: Natürlich! Wenn man sich mit solchen Themen auseinandersetzt, ist das immer eine Frage. Bin ich auch jemand, der hingeht, etwas nimmt und wegbringt? Es ist mir ein Anliegen, mit Leuten vor Ort zu arbeiten – Heiler*innen, Aktivist*innen, Anwält*innen … Es geht darum, in der Arbeit einen Dialog entstehen zu lassen. Mir geht es darum, Fragen aufzuwerfen. Letzten Herbst zeigte ich meine Arbeiten in Ausstellungen in Kapstadt, Johannesburg und Durban, was für mich sehr wichtig war. In zweiseitigen Zeitungsrezensionen wurde diskutiert, warum man sich selbst nie mit diesen Fragen beschäftigt habe. Vielleicht sind die Leute dort so stark mit der Politik der Gegenwart beschäftigt, dass gewisse Themen ausgeblendet werden. Für sie war es interessant, dass jemand von aussen kommt und Sachen sieht, die sie selber gar nicht sahen.

EV: Du kommst von aussen, das heisst, du blickst

aus einer gewissen Distanz auf die

Kolonialisierungsgeschichte in Südafrika.

Welche Rolle spielen Eurozentrismus und

Schuldgefühle in deiner Arbeit?

UO: Ich komme ganz klar aus Europa. Das leugne ich nicht und lege es in der Arbeit offen. Oft ist die Kamera auf mich gerichtet, zum Beispiel im Film «The Visitor» – und «The Visitor» bin ich. Ich denke, ein eurozentrischer Blick würde heissen, dass man die Welt nur aus dem Blickwinkel von Europa sieht. Mir geht es genau darum, den Eurozentrismus zu hinterfragen, das heisst, zu fragen, was genau passierte, als Europa dieses Land eroberte. Meine eigene Positionierung ist mir wichtig – wo ich wer bin und auch was für Privilegien ich habe. Unsere Welt, Politik und Geschichte ist total verwoben. Wir müssen uns mit diesem Gewebe auseinandersetzen und uns fragen: Was hat stattgefunden? Was für Gewalten sind dort am Werk, welche Gefälle gibt es? Und was hat das mit uns zu tun?

 

3. Geschichte und Zukunft

 

EV: Du arbeitest teils mit Video, Fotografien,

Audio oder Text. Was sind die Möglichkeiten des

Multimedialen? Weshalb zum Beispiel fiel die

Entscheidung auf einen Audiodic-

tionnaire bei der Arbeit «What Plants Where

Called Before They Had A Name»?

UO: Ich sammle Material, entwickle Verschiedenes daraus und irgendwann kommt der Moment, in dem klar wird, was es werden könnte. Wird es ein Film? Ergibt eine Serie aus Fotografien mehr Sinn? Bei den Pflanzennamen ging es darum, dass sie umso leichter verdrängt wurden, weil sie lediglich in der mündlichen und in keiner schriftlichen Sprache existierten. Es ging mir nicht darum, die Pflanzennamen zu sammeln und aufzuschreiben, denn verdrängt wurde ja genau das orale Wissen. Aus solchen Überlegungen kommt der multimediale Ansatz.

EV: In deiner Arbeit «Wishing Trees», die letztes

Jahr an der Manifesta in Palermo gezeigt

wurde, geht es um drei verschiedene Bäume mit

drei verschiedenen historischen

Ausgangspunkten. Du verknüpfst zum Beispiel

die Geschichte des Heiligen San Benedetto, aus

dessen Stab der Legende nach vor 440 Jahren

ein Zypressenbaum entsprang, mit der

heutigen Migration in Sizilien. Welche

Rolle spielt hier das historische Ereignis?

UO: Auch wenn vergangene Ereignisse verhandelt werden, geht es in all meinen Arbeiten um die Gegenwart und wie wir mit der Vergangenheit umgehen. San Benedetto war der Sohn afrikanischer Sklaven in Sizilien im 16. Jahrhundert – ein Koch, der dem franziskanischen Orden beitrat und zum ersten schwarzen katholischen Heiligen wurde. Hauptsächlich interessiert mich aber, was sich heute in dieser Geschichte spiegelt. Also habe ich mit drei jungen afrikanischen Migranten gearbeitet, die heute in Sizilien leben und als Köche arbeiten. Ich habe versucht, eine Art Kontinuität zu evozieren. Man lebt immer sehr eingeschlossen in der Gegenwart und denkt, es sei gerade alles ganz aussergewöhnlich. Heute gibt es afrikanische Migrant*innen in Europa aus anderen Gründen, doch es gab sie schon im 16. Jahrhundert. Es geht darum, Geschichten zu öffnen und über die Vergangenheit einen anderen Blick auf die Gegenwart zu gewinnen.

 

 

 

Uriel Orlow (*1973, Zürich) ist ein weltweit beachteter Multimedia-Künstler. Seine Arbeiten wurden unter anderem an der 54. Biennale von Venedig, an der Manifesta 9 und 12, in der Tate Britain und im Castello di Rivoli in Turin sowie an der 8. Mercosur Biennale in Brasilien, der zweiten Biennale in Yinchuan, der 13. Biennale in Sharjah und der 7. Biennale in Moskau gezeigt. Er lebt und arbeitet in London und Zürich.

Die Videoex ist schweizweit das grösste Festival für Experimentalfilme und -videos. An der diesjährigen Videoex (25. Mai – 2. Juni, Zürich) wurden Arbeiten von Uriel Orlow unter dem Programmpunkt CH-Fokus gezeigt und ein Künstlergespräch mit ihm geführt.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität.

Das Interview mit Uriel Orlow wurde von Eva Vögtli am 23. Mai via Skype zwischen Zürich und London geführt.

 

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